Lissabon. Routiniert und abgeklärt sind sie, viele Jahre dabei, aber solch eine turbulente Europameisterschaft haben selbst erfahrene Tischtennis-Cracks wie Timo Boll, Jörg Roßkopf oder DTTB-Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig noch nicht erlebt. Nur mit dem Mini-Kader von drei Spielern hatte das DTTB-Team zur Team-EM nach Lissabon anreisen können, wobei Steffen Mengel und das Damenteam nach stundenlangem Warten am Düsseldorfer Flughafen aufgrund eines Blitzeinschlages in der Maschine erst am Dienstag starteten. Am Mittwoch gewannen Timo Boll und Co. dann das wichtige Auftaktspiel gegen Österreich. Am Donnerstag trat dann jedoch der Worst Case ein: Patrick Franziska verletzte sich im zweiten Gruppenspiel gegen Portugal (3:1) am linken Fuß, wurde behandelt und holte im Anschluss trotz der Blessuren und Schmerzen noch einen wichtigen Sieg. Die Team-EM ist für den 22-Jährigen wohl beendet. Franziskas bittere Verletzung und der Krimi gegen Portugal mit einem bärenstarken Boll wären allein schon eine eigene Geschichte wert gewesen. Doch es wurde noch hektischer.
Acht Minuten vor Spielbeginn trifft "Dima" an der Halle ein
Die Nachricht von der Verletzung Franziskas erhielt Dimitrij Ovtcharov am Nachmittag per SMS von DTTB-Delegationsleiter Christian Back noch auf dem Rollfeld am Flughafen Hannover. Mit über anderthalb Stunden Flug-Verspätung reiste der Weltranglisten-Fünfte nach. Eigentlich sollte der 26-Jährige nach seiner Weisheitszahn-OP und Trainingsrückstand nur ein Backup auf der deutschen Bank sein, doch aufgrund der Verletzung Franziskas wurden die Pläne kurzerhand umgeschmissen.
Um 18:52 Uhr, acht Minuten vor dem Spielbeginn gegen Ungarn, traf der Europameister schließlich an der MEO Arena ein, wurde von Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig und Delegationsleiter Christian Back in Empfang genommen, erhielt die Akkreditierung, machte sich auf zur Schlägerkontrolle und dann sofort in die Trainingshalle, wo er vom Herren-Assistenztrainer Zhu Xiaoyong in Empfang genommen wurde. Bei der offiziellen Begrüßung der Mannschaften musste Ovtcharov nicht dabei sein, die Statuten lassen dies zu.
"Turbulenteste Reise meines Lebens"
Steffen Mengel und Timo Boll ebneten derweil zügig den Weg Richtung Gruppensieg, Ovtcharov musste gegen den Abwehrer Pattantyus nur noch vollenden. Das tat er mit einem glatten 3:0. „Ich bin froh, dass ich einspringen und der Mannschaft als Feuerwehrmann helfen konnte. Timo, Steffen und Patrick haben bislang einen super Job gemacht“, sagte Ovtcharov, der in der Mixed Zone immer noch unter Strom stand. „Erst hatte der Flieger Verspätung, dann haben wir am Flughafen 25 Minuten auf einen Shuttle gewartet. Das Auto kam endlich, und zehn Minuten später verursacht der Fahrer einen Unfall. Zum Glück war der nicht schlimm und es ist niemandem etwas passiert. Wahnsinn. Das war die vielleicht turbulenteste Reise meines Lebens, nur vergleichbar mit der Rückreise von Peking 2010, als der Vulkan auf Island ausgebrochen war.“, erzählte Ovtcharov.
Am Mittwoch wurden ihm nach einer Weisheitszahn-OP in der vergangenen Woche die Fäden gezogen. „Bis gestern habe ich noch Antibiotika genommen, eigentlich war ich nur als Backup vorgesehen, viel trainieren konnte ich in letzter Zeit ja nicht. Insgesamt habe ich die OP aber sehr gut weggesteckt. Gut, dass das Viertelfinale erst morgen Abend ist, dann kann ich morgen noch ein bisschen trainieren“, erklärte der amtierende Einzel-Europameister.
Irres Match gegen Portugal – Boll der Führungsspieler und Matchwinner / Mengel stark
„Das war ein guter Tag für uns, aber auch ein schwerer. Wir haben es gut gemeistert“, befand Timo Boll, der unumstrittene Führungsspieler bei dieser EM. „Dass Patrick sich verletzt hat ist schade. Wir wissen nicht, wie gut Dima wirklich drauf ist, der Gegner heute war noch kein Maßstab. Aber er ist ein Beißer und kann uns sicher jetzt helfen, Europameister zu werden“, sagte der Rekord-Europameister.
Boll war im zweiten Gruppenspiel beim 3:1 gegen Portugal der Matchwinner. Zunächst zeigte er gegen Tiago Apolonia eine Topleistung, ließ den Weltranglisten-20. Überhaupt nicht zur Entfaltung kommen, war leichtfüßig und spielfreudig. 11:6, 11:8 und 11:3 hieß es am Ende für den Düsseldorfer, der in früheren Matches gegen den Portugiesen schon durchaus mehr Probleme gehabt hatte. Diesmal fand Apolonia überhaupt kein Rezept, zu dominant agierte der Rekord-Europameister. Boll machte schließlich auch im Top-Einzel gegen Marcos Freitas alles klar. Zwar musste er in dem hochklassigen Match über die volle Distanz gehen, im fünften Durchgang war der Weltranglisten-Fünfte aber der dominierende Mann.
Franziska fast "aus dem Stand" zum Sieg
Zuvor hatte Patrick Franziska trotz Verletzung am linken Fuß für die wichtige 2:1-Führung gesorgt. „Franz“ war gegen Joao Monteiro beim Stande von 2:1 und 8:7 weggeknickt und musste sich von DTTB-Mannschaftsarzt Dr. Antonius Kass behandeln lassen. Mit einem Tapeverband ging es schließlich weiter. Der 22-jährige Deutsche konnte fast nur noch aus dem Stand spielen, hatte beim 10:9 und 11:10 aber zwei Matchbälle. Monteiro wehrt diese ab und schaffte es in den Entscheidungssatz. Dieser war ausgeglichen geführt, Franziska konnte fast nur noch Blocken, erarbeitete sich aber einen 10:8-Vorsprung. Seinen insgesamt vierten Matchball nutzt Franziska letztlich zum 11:9-Erfolg. Nach dem Match wurde der Düsseldorfer weiter behandelt, eine genaue Diagnose steht noch aus, die EM ist für „Franz“ aber wohl vollendet.
Mengel hat Freitas am Rand einer Niederlage
Bei seiner ersten EM voll angekommen ist Steffen Mengel. Im zweiten Einzel war Steffen Mengel gegen Portugals Nummer eins, Marcos Freitas, in der Rolle des Underdogs. Davon merkte man in den ersten Sätzen aber nichts. Der Bergneustädter, am Mittwoch schon mit einer überzeugenden Leistung gegen Österreichs Chen Weixing , verpasste das vorentscheidende Break nur knapp. Der Deutsche Meister von 2013 gewann Satz eins nach 8:10-Rückstand, führte im zweiten Durchgang schon 8:3 und 10:8, doch Freitas bog den Satz noch um. Dann war wieder der 26-jährige Deutsche im Vorteil, der sich den dritten Satz holte. In Durchgang vier und fünf musste sich Mengel dann ziemlich klar beugen. „Marcos hat die Gabe, auch in brenzligen Situationen ganz ruhig weiter zu spielen, das zeichnet ihn aus. Steffen hat sehr gut gespielt. Wenn er den zweiten Satz holt, dann hätte er noch einen höheren Druck auf Marcos erzeugen können“, analysierte der frühere Bundestrainer und Spielbeobachter Richard Prause.
Deutschland - Ungarn 3:0
Steffen Mengel - Janos Jakab 3:1 (9,7,-6, 4)
Timo Boll - Daniel Kosiba 3:0 (9,4,1)
Dimitrij Ovtcharov - Adam Pattantyus 3:0 (9,3,4)
Deutschland - Portugal 3:1
Timo Boll - Tiago Apolonia 3:0 (6,8,3)
Steffen Mengel - Marcos Freitas 2:3 (10,-10,9,-2,-4)
Patrick Franziska - Joao Monteiro 3:2 (6,7,-6,-12,9)
Boll - Freitas 3:2 (10,-6,6,-11,6)
Die nächsten Partien
Freitag, 26. September
15 Uhr, Damen-Mannschaft: Viertelfinale
Deutschland - Niederlande
Rumänien - Schweden
Weißrussland - Polen
Ungarn - Österreich
19 Uhr, Herren-Mannschaft: Viertelfinale
Deutschland - Frankreich
Kroatien - Weißrussland
Russland - Portugal
Schweden - Spanien
Samstag, 27. September
11 Uhr, Damen-Mannschaft: 1. Halbfinale
15 Uhr, Damen-Mannschaft: 2. Halbfinale
15 Uhr, Herren-Mannschaft: 1. Halbfinale
19 Uhr, Herren-Mannschaft: 2. Halbfinale
Sonntag, 28. September
15 Uhr, Damen-Mannschaft: Finale
19 Uhr, Herren-Mannschaft: Finale
Hinweise:
* Alle Uhrzeiten sind in deutscher Zeit angegeben. Portugal liegt eine Stunde zurück, z.B. 19 Uhr Deutschland = 18 Uhr Portugal.
Die EM-Delegation des DTTB
Herren
Dimitrij Ovtcharov (Fakel Gazproma Orenburg/Russland, Weltrangliste: 5)
Timo Boll (Verein: Borussia Düsseldorf, Weltrangliste: 9)
Steffen Mengel (TTC Schwalbe Bergneustadt, Weltrangliste: 36)
Patrick Franziska (Borussia Düsseldorf, Weltrangliste: 40)
Damen
Han Ying (KTS Zamek Tarnobrzeg/Polen, Weltrangliste: 9)
Shan Xiaona (ttc berlin eastside, Weltrangliste: 24)
Petrissa Solja (ttc berlin eastside, Weltrangliste: 38)
Irene Ivancan (Fenerbahce Istanbul, Weltrangliste: 44)
Sabine Winter (SV DJK Kolbermoor, Weltrangliste: 52)
Trainer, Betreuer und Schiedsrichter
Sportliche Leitung
Dirk Schimmelpfennig (DTTB-Sportdirektor)
Trainerteam
Jörg Roßkopf (Herren-Bundestrainer)
Zhu Xiaoyong (Assistenztrainer Herren)
Jie Schöpp (Damen-Bundestrainerin)
Wan Guohui (Assistenztrainer Damen)
Medizinische Betreuung
Dr. Antonius Kass (Mannschaftsarzt, Düsseldorf)
Birgit Schmidt (Physiotherapeutin, Olympiastützpunkt Hessen)
Lisa Stark (Physiotherapeutin, Köln)
Organisationsleitung
Christian Back (DTTB-Referat Leistungssport)
Schiedsrichter
Gerhard Schnabel (Karlsfeld, Deputy Referee), Rainer Hoffmann (Vlotho), Nico Keiser (München), Dr. Hubertus Reiner (Bad Hersfeld), Jürgen Schödel (Engen), Dr. Holger Schwarze (Bremerhaven), Gert Selig (Hannover), Hans-Peter Wörner (Steinheim)