Baku. Han Ying sieht erschöpft aus. So fühlt sie sich auch. Gerade hat sie ihr Auftaktmatch im Einzel bei den European Games gegen Polina Mikhailova gewonnen. Das 4:0 im Vergleich der Defensivakteurinnen klingt leichter, als es war. „Ich spiele eigentlich gerne gegen moderne Abwehrspielerinnen“, sagt die Weltranglistenzehnte. Die Russin Mikhailova verkörpert einen ähnlichen Stil wie Deutschlands EM-Finalistin von 2011, Irene Ivancan, ist ausgestattet mit einem sicheren, starken Vorhand-Topspin und überraschenden Angriffsschlägen auch mit der Rückhand. „Ich war heute aber super nervös“, so Han. Und was „nervös“ für ihr Spiel bedeutet, erklärt sie gleich danach: „Dann spiele ich verkrampft und will einfach nur schnell gewinnen.“
Auch wenn sie von Samstag bis Montag bereits fünf Partien in der Team-Konkurrenz bestritten und ihre Mannschaft zur gewünschten Goldmedaille geführt hat: Der Einzelwettbewerb ist wie ein neues, ein ganz anderes Turnier. „Das erste Spiel ist immer schwer, egal gegen wen“, beschreibt sie. Immerhin: So geht es fast all ihrer Kolleginnen im europäischen und im Welt-Tischtennis.
Achtelfinale erstmals gegen Polcanova
Daher überließ sie in der Runde der besten 32 Polina Mikhailova zum Großteil das Attackieren und konzentrierte sich selbst auf ihre Abwehrqualitäten. „Ich hätte mehr angreifen sollen, habe mich aber nicht richtig getraut“, gibt sie zu. „In der nächsten Runde läuft das hoffentlich besser.“ Am Donnerstag steht sie - abhängig von Fernseh-Wünschen - voraussichtlich erneut um acht Uhr morgens deutscher Zeit – der Österreicherin Sofia Polcanova gegenüber, Halbfinalistin der German Open 2014 und aktuell die Nummer 57 der Weltrangliste, die der Serbin Gabriela Feher beim 4:0 kaum eine Chance ließ.
Wie Mikhailova hat die Wahl-Düsseldorferin Han in Diensten des polnischen Meisters und ETTU-Cup-Siegers KTS Tarnobrzeg auch Polcanova bislang nie gegenüber gestanden. „Ich sollte eigentlich besser sein als sie, aber man weiß ja nie. Es ist alles offen“, sagt sie vorsichtig. Die Linkshänderin Polcanova überzeugt mit beidseitigem Topspin-Spiel. Han Ying war trotzdem froh, am Mittwoch erstmals in Baku mit Mikhailova einem Abwehrcrack gegenüber gestanden zu haben. „Das hatte ich hier in der Mannschaft noch nicht, und im Einzel gibt es viele gute Abwehrspielerinnen. Daher war es wichtig, mal so ein Spiel zu machen.“
Rio-Ticket im Hinterkopf
Han Ying fühle mehr Druck, wenn sie mit der Mannschaft spiele, hat sie in Baku gesagt, weil dann ein ganzes Team von ihrem Ergebnis abhänge und sie nicht nur für sich selbst spiele. Vor dem Einzel-Auftakt beruhigt hat sie diese Tatsache nicht, denn am Ende einer langen Saison geht es nun um die Direkt-Qualifikation für die Olympischen Spiele 2016. Wer in Baku gewinnt, löst das Ticket nach Rio de Janeiro und erspart sich die kontinentale Qualifikation Anfang April in Istanbul. Dieses Wissen macht das Turnier doppelt schwer, abgesehen von dem Traum jeder Spielerin, sich den Titel bei der Premiere der Europaspiele zu sichern, die in Zukunft ebenso prestigeträchtig werden könnten wie die anderen kontinentalen Ableger der Olympischen Spiele, die Asian oder Panamerican Games zum Beispiel.
Entsprechend gemäßigt fiel die Goldmedaillen-Feier der deutschen Damen am Montagabend aus. Um Mitternacht waren Han Ying, Petrissa Solja, Shan "Nana" Xiaona und Bundestrainerin Jie Schöpp zurück aus dem Deutschen Haus im Athletendorf, dann übermannte die Topgesetzte in Baku der Schlaf. „Unglaublich, ich habe elf Stunden geschlafen. Als ich um elf Uhr aus meinem Zimmer kam, hat mich ‚Nana‘ gefragt, ob ich jetzt erst aufgewacht bin oder ob das schon mein Mittagsschlaf war“, erzählt Han. „Ich bin hier so richtig müde.“ Nicht verbessert hat sich dieser Zustand dadurch, dass der Wecker des Damen-Trios an den ersten beiden Tagen für die Früh-Matches um 5.30 Uhr morgens geklingelt hatte.
Nach Baku der letzte Urlaub vor Olympia
„Jetzt nur noch zwei Tage“, zählt sie auf. Läuft alles setzungsgemäß, sind es bis einschließlich Medaillen-Match für sie noch vier Spiele. Den nachfolgenden Urlaub sehnt die 32-jährige Mutter bereits jetzt herbei. Ihre bald dreijährige Tochter und Ehemann Lei Yang sind bereits jetzt in China vor Ort für den Jahresurlaub. Han wird über Düsseldorf nach Peking folgen. Die vier Wochen werden die längste freie Zeit seit Langem, im Hinblick auf Olympia im kommenden Jahr wird es aber voraussichtlich der vorerst letzte Urlaub sein. „Länger als zwei Wochen darf ich den Schläger sowieso nicht aus der Hand legen“, sagt die zweifache Team-Europameisterin, die mit Lei Yang, unter anderem DM-Finalist von 2008, den perfekten (Trainings-)Partner an ihrer Seite hat. „Außerdem haben wir danach unseren Sommer-Konditionslehrgang.“ Dieser legt die athletischen Grundlagen für die nächste Spielzeit, vor allem für das Olympia-Jahr, und auf ihn sollten die Sportlerinnen körperlich bereits gut vorbereitet sein. Auch in China wird sich ihr Leben also so ziemlich ohne Pause um Tischtennis drehen. Das Olympia-Ticket in ihrer Tasche allerdings würde für zusätzliche Entspannung sorgen.
Weitere Partien mit deutscher Beteiligung am Mittwoch
Um 11 Uhr deutscher Zeit folgt heute die Partie von Petrissa Solja, um 14 Uhr das erste Einzel von Dimitrij Ovtcharov.
Mittwoch, 17. Juni
Damen-Einzel, 2. Runde (beste 32)
Han Ying – Polina Mikhailova RUS 4:0 (9,4,8,10)
Petrissa Solja – Anamaria Erdelji SRB (Erdelji zuvor 4:0 über Letizia Giardi SMR), 11 Uhr deutscher Zeit
Achtelfinale am Donnerstag, 18. Juni
Han - Sofia Polcanova AUT, voraussichtlich um 8 Uhr deutscher Zeit (Änderung aufgrund von TV-Wünschen möglich)
Zum Live-Ticker auf Baku2015.com
Herren-Einzel, 2. Runde (beste 32)
Dimitrij Ovtcharov – Dmitrij Prokopcov CZE, 14 Uhr deutscher Zeit
<strike>Timo Boll</strike> – Wang Yang SVK
Das deutsche Aufgebot in Baku
Herren-Mannschaft: Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll, Patrick Baum
Herren-Einzel: Dimitrij Ovtcharov, <strike>Timo Boll</strike>
Damen-Mannschaft: Han Ying, Petrissa Solja, Shan Xiaona
Damen-Einzel: Han Ying, Petrissa Solja
Betreuer: Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf und Assistent Zhu Xiaoyong, Damen-Bundestrainerin Jie Schöpp, Teilmannschaftsleiter Rainer Kruschel, Dr. Rainer Eckhardt (Mannschaftsarzt, Ulm), Annette Zischka (Physiotherapeutin Olympiastützpunkt Hessen in Frankfurt am Main)
Für das ETTU-Präsidium nur bei den Team-Wettbewerben vor Ort: Heike Ahlert (DTTB-Vizepräsidentin Leistungssport)
Deutsches Schiedsrichter-Team in Baku: Michael Zwipp (Oberschiedsrichter, Langen), Gerhard Schnabel (Schläger-Tester, Karlsfeld), Gert Selig (Hannover), Klaus Seipold (Meerbusch)