München. Wer als Timo-Boll-Fan dessen Karriere schon etwas länger verfolgt, sollte sich abgewöhnen, in den ersten Runden von Top-Events um ihn zu zittern. Das ist nervenschonender. Und die Aufregung ist ohnehin unnötig. Sehr oft jedenfalls. In München ist es wieder mal passiert: Mit 1:3 in Sätzen und 3:7 hatte der Düsseldorfer in seinem Auftakteinzel bei den European Championships gegen Polens 20-jähriges Toptalent Samuel Kulczycki hinten gelegen und befand im Anschluss: „Wer bei dem Rückstand noch an mich glaubt, der sollte kein Glücksspiel betreiben.“
Boll erinnerte selbst aber auch an eine ähnliche Begebenheit vier Jahre zuvor. Bei der EM in Alicante hatte er sich gegen den damals 21-jährigen Franzosen Can Akkuzu in Runde zwei aus hohen Rückständen in den Entscheidungssatz gerettet und diesen in der Verlängerung gewonnen. Auch den Titelkämpfen in Spanien war eine längere Verletzungspause, wenig Training und mangelnde Matchpraxis vorausgegangen. Ob sich die Geschichte bei den vielleicht letzten Europameisterschaften des 41-jährigen kontinentalen Rekord-Titelträgers im eigenen Land wiederholt?
Noch einmal wie in Alicante? Verletzt, fast draußen, dann Europameister
„In Alicante habe ich am Ende oben gestanden“, so Boll, der im Halbfinale den Siegeszug seines Kumpels Patrick Franziska gestoppt hatte und im Endspiel Rumäniens Ovidiu Ionescu mit 4:1 besiegte. „Bis dahin habe ich hier noch einen harten Weg vor mir und viele Treppenstufen, die ich von der Performance her nach oben klettern muss.“
Gegen Kulczycki hatte Boll lange gefehlt, was ihn sonst ausmacht: Er hatte kein Gefühl, keine gelingenden Ideen beim Aufschlag-Rückschlag-Spiel, keine Antizipation, „kein Mittel, um ihn so ein in Bedrängnis zu bringen, dass er die Bälle nicht mit 150 km/h durchziehen kann (Zitat Boll).“ Zwar sei er selbst gut herumgetänzelt, habe sich nicht schwerfällig gefühlt, „aber wenn man immer in die falsche Ecke springt und gar nichts voraussieht, dann wird's halt schwer gegen diese Klasse von Spielern“. Zur Erleichterung der ihn in jeder Spielpause rhythmisch klatschend und seinen Namen skandierenden Zuschauer lief es ab dem 3:7 plötzlich mit den eigenen Aufschlagvarianten, beim Rückschlag setzte er gewinnbringend die Rückhand ein und konnte endlich ausnutzen, was einen langjährigen Weltklassespieler von einem Youngster mental unterscheidet. Ihn bringen Veränderungen und dahinschmelzende Führungen nicht so leicht aus dem Konzept. Mit 11:9 klaute Boll diesen Satz noch, danach steigerte er sich immer weiter und dominierte schließlich die Partie gegen einen konsternierten Kontrahenten.
„Man hat gemerkt, dass Timo lange keinen Wettkampf hatte. Das ist halt Timo, der dann noch zurückkommt, immer weiter kämpft und sich im Spiel das Selbstvertrauen holt“, erklärte Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf. „Es war wichtig, dass er so ein heißes Ding gewonnen hat.“
Alle fünf Herren in Runde zwei | Ovtcharov: „Mache mir keinen großen Druck“
Vom Doppel abgesehen, war das Trainer-Team der Herren hochzufrieden mit den Ergebnissen des sechsten Turniertags. „Dass alle Fünf weitergekommen sind, ist eigentlich ein herausragendes Ergebnis, weil es wirklich schwere Spiele waren – Timos Spiel genauso wie das von ‚Franz‘ gegen Pavel Sirucek, das er klar gewonnen hat“, so Roßkopf. Der überglückliche frischgebackene Vater eines Sohnes, Patrick Franziska, besiegte den Tschechen glatt in vier Sätzen. Dimitrij Ovtcharov benötigte nur einen Satz mehr bei seinem ersten Auftritt in der Rudi-Sedlmayer-Halle gegen den Dänen Martin Andersen. „Die Bedingungen sind sicher speziell, weil es in der Halle sehr warm ist“, konstatierte Mr. Olympia und ergänzte mit Blick auf den Spielverlauf gegen Andersen: „Die ersten Spiele sind immer schwer, weil die Gegner wenig zu verlieren haben und voll drauf gehen.“ Über mögliche Titelambitionen sagte der Neu-Ulmer: „Ich genieße es, wieder fit zu sein und vor Publikum zu spielen, mache mir aber keinen großen Druck.“
Qiu und Duda nehmen Doppel-Frust ins Einzel mit
Dang Qiu wackelte unverhofft. Der amtierende Deutsche Einzel-Meister geriet nach 2:1-Satzfühung gegen den türkischen Aufschlagspezialisten Ibrahim Gündüz mit 2:3 ins Hintertreffen und siegte mit 11:9 im entscheidenden Durchgang am Ende eines kräftezehrenden Tages, der vor allem vom Viertelfinal-Aus im Doppel an der Seite von Benedikt Duda gekennzeichnet war.
Duda schlug in der letzten Session des Tages um kurz vor 22 Uhr Jordy Piccolin mit 4:1, bekam nach 3:0 und 10:6 aber dann doch noch Mühe mit dem Italiener. „Ich habe ihn unnötig ins Spiel kommen lassen“, sagte Duda. „Ich glaube, da war noch der Frust im Doppel mit dabei.“
Bitteres aus für Youngsters Kaufmann und Schreiner
Bei den Damen verpassten von den sieben deutschen Spielerinnen am Mittwoch nur die beiden Qualifikantinnen und Publikumslieblinge Annett Kaufmann und Franziska Schreiner die Runde der besten 32, die am Donnerstag ausgetragen wird.
Für die 16-jährige Newcomerin des Jahres und die nur vier Jahre ältere gebürtige Bayerin, die sich beide durch Gold bzw. Bronze bei der U21-EM im vergangenen Jahr ihre persönlichen Startplätze erspielte hatten, waren es bittere Niederlagen, bei denen sie sich jeweils nach hohen Rückständen zurückkämpften und ihre Führungen im Anschluss nicht nutzen konnten. Annett Kaufmann unterlag der 48 Plätze in der Weltrangliste vor ihr rangierenden Polin Natalia Bajor nach ähnlichem Verlauf wie Franziska Schreiner Doppel-Medaillengewinnerin Maria Xiao aus Spanien: nach 1:3-Satzrückständen und zwischenzeitlich komfortablen Führungen im Entscheidungssatz noch mit 9:11.
„Ich kann noch kein Fazit ziehen, weil ich gerade voller Emotionen bin und es noch gar nicht beurteilen kann“, sagte eine tief enttäuschte Annett Kaufmann. „Das gilt auch fürs Doppel. Ich glaube, im Nachhinein kann ich viel aus diesen Spielen lernen, damit ich weiß, was ich in Zukunft machen bzw. trainieren muss.“ Im Doppel waren sie am Morgen im deutschen Achtelfinal-Duell Nina Mittelham/Sabine Winter mit 0:3 unterlegen und hatten nur im letzten Satz die erhoffte Gegenwehr gegen die an Position zwei Gesetzten leisten können.
Han, Mittelham, Shan und Winter ungefährdet weiter
Im Einzel spazierten Winter und Mittelham ähnlich wie Ying Han und Xiaona Shan ungefährdet in die zweite Runde. Für Yuan Wan, die kurzfristige Nachrückerin für die verletzte Petrissa Solja, begann ihr erster Auftritt bei der Heim-EM gegen die Tschechin Katerina Tomanovska zäh; nach einem 0:2-Satzrückstand fand die Neu-Weinheimerin jedoch noch rechtzeitig ins Spiel. „Ich habe dann um jeden Ball gekämpft und mich reingebissen. Ich wollte wirklich keinen siebten Satz spielen. Am Ende kam die ganze Erleichterung heraus, meine ganzen Emotionen“, so Wan.
Während Han, Shan und Winter in Runde zwei vor lösbaren Aufgaben stehen, wird die dreifache DM-Medaillengewinnerin von Saarbrücken, Wan, am Donnerstag der Underdog sein. Sie steht der Europe-Top-16-Gewinnerin des Vorjahres und Nationalteamkollegin, Mittelham, gegenüber. Im direkten Vergleich, vor allem in der Bundesliga und bei nationalen Meisterschaften, spricht die Statistik eindeutig für Mittelham. „Ich habe nichts zu verlieren und werde versuchen, jeden Ball zu genießen, den ich noch hier spielen darf", so Wan.
Damen-Einzel, 1. Runde (64)
Ying Han – Dragana Vignjevic SRB 4:0 (5,1,3,2)
Sabine Winter – Oceane Guisnel FRA 4:0 (6,9,5,11)
Annett Kaufmann – Natalia Bajor POL 3:4 (-7,9,-10,-7,10,8,-9)
Xiaona Shan – Tania Plaian ROU 4:0 (7,5,8,11)
Franziska Schreiner – Maria Xiao ESP 3:4 (-7,-4,7,-7,8,6,-9)
Yuan Wan – Katerina Tomanovska CZE 4:2 (-4,-6,4,7,5,9)
Nina Mittelham – Charlotte Lutz FRA 4:1 (-10,7,8,6,3)
2. Runde (32)
10.00 Uhr: Ying Han - Christina Källberg SWE
10.50 Uhr: Sabine Winter - Irina Ciobanu ROU
10.50 Uhr: Xiaona Shan - Katarzyna Wegrzyn POL
16.35 Uhr: Nina Mittelham - Yuan Wan
Herren-Einzel, 1. Runde (64)
Dimitrij Ovtcharov – Martin Andersen DEN 4:1 (11,6,5,-5,6)
Patrick Franziska – Pavel Sirucek CZE 4:0 (8,5,4,9)
Timo Boll – Samuel Kulczycki POL 4:3 (-9,6,-9,-5,9,1,5)
Dang Qiu – Ibrahim Gündüz TUR 4:3 (-6,6,5,-11,-10,4,9)
Benedikt Duda – Jordy Piccolin ITA 4:1 (2,4,5,-11,11)
2. Runde (32) am Freitag
Patrick Franziska - Jakub Dyjas POL
Dimitrij Ovtcharov - Csaba András HUN
Timo Boll - Lubomir Jancarik CZE
Dang Qiu - Ioannis Sgouropoulos GRE
Benedikt Duda - Daniel Habesohn AUT
Herren-Doppel, Halbfinale
12.30 Uhr: Alexis Lebrun/Felix Lebrun FRA - Daniel Habesohn/Robert Gardos AUT
14.45 Uhr: Mattias Falck/Kristian Karlsson - Jon Persson/Anton Källberg SWE
Damen-Doppel, Halbfinale
13.15 Uhr: Ni Xia Lian/Sarah De Nutte LUX - Elizabeta Samara/Andreea Dragoman ROU
14.00 Uhr: Sofia Polcanova/Bernadette Szocs AUT/ROU - Maria Xiao/Adina Diaconu ESP/ROU
Finals
18.10 Uhr: Finale Herren-Doppel
19.00 Uhr: Finale Damen-Doppel