Danzig. Die Verballhornung von Namen gilt nicht gerade als die hohe Kunst des Humors. In der Regel ist der, dessen Name davon betroffen ist, der Letzte, der darüber lachen kann. In Danzig nimmt Irene Ivancan dies aber gerne hin. „Ivanschan“ spricht man ihren Familiennamen eigentlich aus. Ihre Eltern kommen aus Kroatien, Irene ist in Deutschland geboren und musste unzählige Male in den 28 Jahren, die sie jetzt alt ist, die richtige Aussprache erklären. Denn üblicherweise bekommt sie beim ersten Versuch ihres Gegenübers „Ivan-kan“ zu hören. In Danzig ist das nicht anders, nicht zuletzt bei den Hallensprechern. Doch bei den Europameisterschaften hat das deutsche Team eine Tugend daraus gemacht: „Ivan-kan kann“, lautete das Motto in der Nationalmannschaft. Denn sie konnte – und das während der kompletten neun Tage in der ERGO Arena. Am Sonntag hat sie ihre Topleistung des gesamten Turniers mit der Silbermedaille im Einzel gekrönt. Die Viertelfinalteilnahme hatte sie sich selbst schon vor dem Turnier zugetraut. Silber aber, und ihre klasse Spiel im Finale, bei dem sie dicht vor der Goldmedaille stand, ist einen kleine Sensation. "Ich bin nicht unglücklich, das Finale verloren zu haben. Ich kann stolz sein auf meine Leistung. Schließlich habe ich gegen die beste Spielerin Europas gespielt und sogar mit 3:2 geführt", sagte Ivancan.
Ihre Finalgegnerin hieß Li Jiao, und die ist eine Größe im Spiel gegen eigentlich alle Europäerinnen, aber auch gegen Defensivsysteme. Die 38-jährige gebürtige Chinesin verfügt über viel Erfahrung, die nötige Ruhe und ein exzellentes Ballgefühl. Sie kann den Effet ihrer Topspins sehr gut variieren und ihr Gegenüber mit extremen Winkeln auch läuferisch beschäftigen. Viermal hat sie das kontinentale Ranglistenturnier Europe Top 12 gewinnen können, war 2007 Einzel-Europameisterin und führte ihre Mannschaft in Danzig zum vierten Team-Titel in Folge. Auch vor diesem Hintergrund war Irene Ivancans Leistung gegen sie bemerkenswert.
Am Ende zu viel riskiert
Im Endspiel benötigte Irene Ivancan diesmal keine Zeit, um ins Spiel zu kommen. Nach einer schnellen 8:4-Führung sicherte sie sich Durchgang eins mit 11:9. Dann änderte Li Jiao ihre Taktik, spielte passiver, zog nur noch dosierte Topspins, um Ivancan zur Initiative zu zwingen. Schnell gingen Satz zwei und drei verloren. Dann wurde die flexible Berliner Bundesligaspielerin ruhiger. Sie wurde in der Abwehr geduldiger und wartete die passenden Bälle für Offensivaktionen ab. Mit einem Kantenball verwandelte sie den Satzball zum 11:7 in Durchgang vier. Im fünften Satz hielt sie stetig ihren Zwei-Punkte-Vorsprung. Ivancans Punkt zum 11:9 musste Li Jiao für die verkehrte Welt gehalten haben: Da stand die moderne Abwehrspielerin nah am Tisch und zog und schoss, während die niederländische Angreiferin den Ball nur mühsam aus der Halbdistanz zurücklöffeln konnte. Doch dann die Wende: Nur noch einen Satz vom Gold entfernt, agierte Irene Ivancan zu überhastet, riskierte zu viel und produzierte viele eigene Fehler. Nach dem 11:3 für Li hatte die Favoritin Oberwasser, Ivancans Kräfte, mental und konditionell, schienen am Ende. Europas Nummer eins erspielte sich komfortable Vorsprünge und hielt sie bis zuletzt.
"Ich bin nicht traurig, dass ich verloren habe, mich wurmt nur, wie wie ich verloren habe. Die Frau war einfach dicht. Ich habe es nicht mehr geschafft, eine Lücke zu finden. Aber ich habe mich wacker geschlagen, und man sieht sich immer zweimal im Leben", betonte Ivancan. Ihre Belohnung für die Silbermedaille fällt bescheiden aus. "Ich will einfach, dass ich um 18 Uhr meinen Flieger erwische. Vorher muss ich noch zur Dopingkontrolle", sagte Ivancan und schob hinterher: "Ich bin einfach genügsam."
Irene Ivancans Spiele bis zum Einzelfinale hatten Kraft gekostet. 17 Partien hatte sie bis zum Finale absolviert, sieben im Mannschaftswettbewerb, vier Doppel zusammen mit Wu Jiaduo und sechs Einzel. Eine konditionelle Meisterleistung war dies, aber auch die medizinische Betreuung war optimal. Physiotherapeut Markus Fischer aus Höhr-Grenzhausen, selbst ehemaliger Kaderspieler, und Dr. Antonius Kass machten sie für den Schlusstag noch einmal fit. Der deutsche Mannschaftsarzt aus Düsseldorf löste durch Akupunktur gestern Abend noch eine leichte Muskelverhärtung in ihrem rechtem Oberschenkel. Am Sonntag war sie wieder schmerzfrei.
Vor dem Finale hatte sie in der Vorschlussrunde die EM-Finalistin von 2009, die Ukrainerin Margaryta Pesotska, in fünf Sätzen besiegt. Nach dem schnellen Verlust des ersten Satzes war sie ins Spiel gekommen – ein typisches Phänomen bei Irene Ivancan. „Zu Beginn braucht sie oft sehr lange, bis sie ins Spiel findet und ihre Nervosität ablegt“, erklärte Jörg Bitzigeio. „Das kann dann schon mal den ersten Satz kosten. Dabei sind ihre Gegnerinnen mindestens genauso nervös wie sie selbst.“ Ab Durchgang zwei war ihr Abwehrbollwerk stabil, mit dosierten Angriffsschlägen brachte sie ihre Kontrahentin immer wieder aus dem Rhythmus. "Inzwischen kann sie auch Matches über den passiven Bereich gewinnen", so Bitzigeio, eigentlich eine Kunst klassischer Abwehrspielerinnen, die ihre Gegnerinnen durch schier endloses Zurückspielen der Bälle zermürben.
Dass es am Ende doch nicht die Goldmedaille geworden ist, wird die Studentin des „Internationalen Managements“ an der Hochschule Ansbach schnell wegstecken können. Denn so, wie sie sich hier präsentiert hat, sind die nächsten Erfolge nur eine Frage der Zeit.