Von André König
Familie Kaiser stand vor einem rauchenden Haufen Asche. In kürzester Zeit hatte das Feuer ihr Wohnzimmer in eine Art Pfadfinderlager verwandelt, in dessen Mitte eine Feuerstelle für Behaglichkeit sorgen sollte. Oder zu mindestens für Wärme. Warm war der Familie durchaus. Eher sogar heiß. Behaglich allerdings war das, was sich nun nach dem Verschwinden des Rauches vor ihren Augen offenbarte, allerdings überhaupt nicht.
Vater Kaiser starrte mit einem merkwürdigen, für die Situation völlig unangemessenen, Lächeln auf den Aschehaufen, während er einen schnell organisierten Wassereimer zu seinen Füßen stellte. Offenbar wusste er nicht, ob er entsetzt sein sollte über das, was soeben geschehen war oder zufrieden mit seiner Löschleistung. Mutter Kaiser hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und drückte Melanie an sich, der die Tränen in den Augen standen. Für ein acht Jahre altes Mädchen geradezu tapfer. „Da haben wir nochmal Glück gehabt“, tönte es plötzlich aus der anderen Ecke des Zimmers. Opa Bernd erhob sich von seinem Sessel, als wäre er gerade von einem kurzen Nickerchen wach geworden. „Vielleicht war das mit den echten Kerzen doch nicht so eine gute Idee“, gab er unumwunden zu.
Der Tannenbaum, dessen Nadeln sich buchstäblich in Rauch aufgelöst hatten, stand nun kahl da, als wäre er ein gerupftes Hühnchen. Die Äste waren leicht verkohlt, aber noch überwiegend intakt. Auch von den Kugeln war nichts mehr zu sehen. Das heißt: nicht ganz. Am Boden gab es nun merkwürdig silberne Flecken. Hier hatten sich die geschmolzenen Kugeln ein Denkmal getropft. Der Blick unter den „Hähnchenbaum“ offenbarte aber noch ein viel schlimmeres Desaster: Die alte Krippe, die schon über Generationen weitergegeben wurde war nicht mehr, als ein kleiner Haufen Holzkohle. „Was machen wir denn nun?“, fragte Melanie in die Runde. „Wir räumen erstmal auf“, erwiderte der Vater, „und dann muss dieses Jahr eben ohne Baum gefeiert werden. Das muss eben mal gehen. Schließlich kriege ich um die Uhrzeit keinen Weihnachtsbaum mehr und wir wollen doch gleich zur Kinderchristmette.“
Weihnachten ohne einen Baum und ohne eine Krippe konnte sich zwar niemand im Raum so recht vorstellen, aber zur Not wird es wohl gehen müssen. Als der Opa in die Gesichter seiner Familie schaute, regte sich ein Gedanke in ihm und er sagte: „Lasst mich mal machen. Ich habe eine Idee. Ihr wisst doch. Ich bin zwar alt, aber noch recht rüstig. Ihr geht zur Kirche und macht einen langen und ausgiebigen Spaziergang durch die weihnachtliche Stadt und wenn ihr wiederkommt, dann… ja also dann… dann werdet ihr schon sehen.“ Der alte Mann feixte dieses „dann werdet ihr schon sehen“ geradezu schelmisch und wirkte von der einen auf die andere Sekunde zwanzig Jahre jünger. Er komplimentierte die Familie aus dem Haus und als er endlich alleine war, stieg er in den Keller hinunter. Während er von dort eine große Kiste holte, brabbelte er vor sich hin. Es war so ein enthusiastisches Gebrabbel, dass man fast meinen könnte, die Familie wäre nicht soeben einer Katastrophe entgangen. Allerdings waren die Worte des alten Schreiners nicht wirklich verständlich, weshalb man nicht schlau daraus wurde.
Hätte man am 24. Dezember 2024 gegen 14 Uhr in das Haus der Familie Kaiser geschaut, vielleicht durch das kleine Fenster neben der Eingangstür, so hätte man dort die aller merkwürdigsten Dinge gesehen. Opa Bernd sägte, hämmerte, klebte, malte, feilte und huschte durch die Wohnung, als hätte er die Energie der Weltmeisterin Annette Kaufmann bei Olympia in Paris. Und immer wieder griff er in die komische, alte Kiste, die er aus dem Keller geborgen hatte. Was konnte denn da drin sein, was diesen katastrophalen Start in den Tag doch noch zu einem Erfolg führen würde?
Als die Familie gegen 18 Uhr wieder nach Hause kam, öffnete Opa Bernd ihnen freudig die Tür: „Ihr seid genau richtig wieder zurückgekommen. Ich bin nämlich fertig.“ „Fertig mit was denn, Opa?“, fragte die kleine Melanie neugierig. „Schließt am besten die Augen und folgt mir in das Wohnzimmer!“, empfahl Opa Bernd und der Rest der Familie tat wie ihr geheißen war. „Und jetzt“, erhob Opa Bernd nun seine Stimme als wollte er einen Boxkampf ansagen,“ Augen auf!“
Was sich der Familie nun für ein Anblick bot, ist kaum zu beschreiben. Am Weihnachtsbaum oder viel mehr an dem, was vom Weihnachtsbaum übriggeblieben war, hingen bunte Tischtennisbälle als Ersatz für die geschmolzenen Kugeln. Opa hatte jeden Einzelnen angemalt. Als Spitze für den Baum hatte er acht Netzlehren so ineinander verhakt und angemalt, dass sie aussahen wie ein goldener Stern und aus grünen Banden hatte er so viele Schnipsel gemacht und die Äste damit beklebt, dass der Baum von einer gewissen Entfernung aussah, als hätte er noch alle seine Nadeln. Damit aber nicht genug. Unter dem Baum stand eine vollständige Krippe. Eine Krippe mit Figuren, einem Stall und Moos zur Dekoration. „Wie hast du das gemacht?“, entfuhr es den Eltern fast zeitgleich.
„Die Figuren sind nur zweidimensional,“ entgegnete Bernd gut gelaunt, „schaut mal aus einem anderen Winkel. Ich habe meine alten Tischtennishölzer ausgesägt. Zunächst vorgemalt und dann mit meiner Handsäge sorgsam ausgestochen. Wie Plätzchen.“ Bernd lachte. Tatsächlich hatte dieser verrückte alte Mann seine Sammlung von Hölzern fast vollständig zersägt. Aus dem Schlägerblatt die Figuren und Tiere und aus den Griffen eine Art Basis, damit sie nicht umfallen konnten. Das Moos hatte er aus Schaumstoff gemacht, den er aus seinen Hardcase-Schlägerhüllen entnommen hatte und ihn dann grün bemalt. Aus dem Rest der Griffe hatte er einen Stall gebaut und aus einem Netz das dazugehörige Stroh. Der Weihnachtsszenerie fehlte es tatsächlich an nichts. Obwohl eine Kleinigkeit doch fehlte: das Jesuskind in seiner Krippe. Und das holte Opa Bernd jetzt hinter seinem Rücken hervor. „Die Hauptfigur des heutigen Abends habe ich aus dem wertvollsten Schläger gemacht, den ich habe. Er mag nicht der Teuerste sein, aber für mich ist er dennoch der Wertvollste. Mit diesem Schläger habe ich nämlich gespielt, als ich unsere Oma Frida kennengelernt habe. Sie hat auch gespielt, müsst ihr wissen. Und zwar richtig gut. “ Er stellte das Jesuskind mit seiner Krippe in den Stall und strahlte bis über beide Ohren.
„Du hast Weihnachten gerettet, Opa!“, rief Melanie und umarmte ihn überschwänglich. Und als die Familie gemeinsam am Tisch saß und aß, da schauten sie unentwegt rüber zum Baum mit den Tischtennisbällen und der Krippe. „Die ‚Tannennadeln‘ habe ich übrigens mit Kleber für Beläge an die Äste geklebt“, sagte Opa Bernd da auf einmal und lachte so herzhaft, dass er sich den Bauch hielt. Es war ein so ansteckendes Lachen, dass alle mitlachen mussten.