Suzhou. „Das war die beste Verletzung, die du kriegen konntest.“ Jörg Roßkopf lachte, als er das am Donnerstagabend zu Patrick Franziska im Fahrstuhl des Mannschaftshotels in Suzhou sagte, und der Angesprochene konnte dabei auch nicht ernst bleiben. Ein Scherz unter zwei Menschen, die sich sehr gut kennen und verstehen – der eine Bundestrainer, der andere sein Schützling. Ein Scherz, der keinen Beigeschmack hat, weil beide wissen, wie lang die Leidenszeit war, die der 22-jährige Düsseldorfer hinter sich hat. Und vor allem, die nun endgültig vorbei ist.
Franziska steht im ersten WM-Viertelfinale seiner Karriere. „Patrick hat bisher ein Wahnsinnsturnier gespielt“, lobt Coach Roßkopf und stellt heraus: „So viele Spieler, auch von den ganz guten, schaffen es nicht in ein WM-Viertelfinale.“ Am „Tag der Arbeit“ ist er in China der „Held der Arbeit“. Im Achtelfinale musste er sich mächtig strecken, um einen erneut stark aufspielenden Kou Lei zu besiegen. Nach einem klassischen Fehlstart mit 0:2-Satzrückstand fand der Team-WM-Zweite von Tokio noch zur nötigen inneren Ruhe und zur Taktik gegen den Ukrainer, der zwei Runden zuvor bereits Franziskas Nationalteamkollegen Bastian Steger ausgeschaltet hatte.
Zu schnell, zu hart, zu gierig
Zu schnell, zu hart, zu gierig hatte Franziska die Partie gegen Kou begonnen. „Damit habe ich ihm in die Farbe gespielt“, bekannte der gebürtige Hesse, „ich habe einfach zu doof gespielt“. Die von Bundestrainer Roßkopf dann deutlich vorgegebene Marschroute war eine ganz andere: weicher und mit mehr Rotation. Diese Rechnung ging auf, Franziska fühlte sich zunehmend sicherer. „Dass ich den fünften Satz noch gewonnen habe, obwohl ich immer zurücklag, war wichtig“, sagte er über sein 11:9. Das Selbstvertrauen hielt an, mit einem 11:8 in Satz sechs gewann er das Match und schreibt mit diesem hart erkämpften Sieg seine WM-Erfolgsgeschichte in Suzhou fort.
„Ich kann es so kurz nach dem Sieg noch nicht realisieren“, sagte er mit breitem Siegerlächeln. „Vor der WM war mein Ziel, gegen einen in der Weltrangliste über mir Platzierten zu gewinnen. Dass es jetzt so läuft, hätte ich nie gedacht.“ In der Runde der besten Acht trifft er am Samstag auf Chinas Fang Bo, der seinen an der Schulter des Schlagarms verletzten Teamkollegen und Weltranglisten-Zweiten Xu Xin aus dem Turnier warf. „Wenn er schon im Viertelfinale steht, warum sollte es dann nicht noch weitergehen?“, fragt Jörg Roßkopf. „Beide haben noch nicht in einem WM-Viertelfinale gestanden. Es ist für beide eine neue Situation. Patrick wird morgen sicher nicht schlecht gegen Fang Bo spielen. Die Frage ist, wie gut sich Fang Bo darauf einstellen kann.“
Fast mit sich zufriedener Boll zieht ebenfalls ins Viertelfinale ein
In der Runde der besten Acht steht auch Franziskas Düsseldorfer
Mannschaftskamerad Timo Boll, der gegen Wong Chun Ting aus Hongkong eine blitzsaubere Leistung ablieferte. Anders als am Vortag beim knappen Erfolg über Joao Monteiro wirkte der Rekord-Europameister spritzig, war schnell auf den Beinen und voller Selbstvertrauen bei seinem 4:1-Sieg. „Ich habe nicht ängstlich gespielt, sondern bin auf die Bälle draufgegangen. Ich habe zwar nicht alle getroffen, aber viele. Es ist wichtig zu wissen, dass man sich auf seine Schläge verlassen“, erklärte er.
100-prozentig zufrieden war er mit sich nicht, ist er aber ohnehin fast nie. „Ich bin ein Perfektionist. Ich sehe jeden Fehler im Spiel, jede Kleinigkeit. Aber im Vergleich zu gestern, sollte ich heute mal zufrieden sein.“ Sein Kontrahent am Samstag um zehn Uhr deutscher Zeit – eine Stunde nach Franziska gegen Fang Bo – ist der 19-jährige Weltranglisten-Vierte Fan Zhendong aus China. „In der chinesischen Liga habe ich mal 0:3 verloren, aber zwei Sätze waren knapp“, so Boll. „Er ist jung und will hier zeigen, wie gut er ist, dass er zu den zwei, drei Topleuten gehört. Deswegen hat er jede Menge Druck. Ich hoffe, dass ich das ausnutzen kann.“
Ivancan hielt Partie gegen Ding Ning offen
Nicht unerwartet ausgeschieden ist mit Irene Ivancan die letzte deutsche Dame im Turnier. In ihrem ersten Aufeinandertreffen mit der Nummer eins der Welt aus China, Ding Ning, gab es eine 0:4-Niederlage, doch auch eine ansprechende Leistung der modernen Abwehrspielerin Ivancan, vor allem in den Durchgängen zwei, drei und vier, die die EM-Finalistin von 2011 offener gestalten konnte. „Ich habe zwei Sätze gebraucht, um mich an das Niveau zu gewöhnen. Im Dritten habe ich am Ende geführt und dann zwei Aufschläge gefressen. Das hätte nicht sein müssen“, analysierte sie. „In den letzten 16 zu stehen, ist schon toll, aber natürlich hätte ich mir gewünscht, noch mehr zu schaffen. Ich habe gegen die Nummer eins der Welt gespielt, aber sie ist nicht gerade der Crack gegen Abwehr, und wenn es knapper gestanden hätte, hätte sie wahrscheinlich auch nicht Bälle getroffen wie zum Schluss.“ Ivancans Fazit: „Mir tun auch solche Niederlagen immer weh, aber ich kann gut damit leben.“
Turnierfavoritin Ding gewann auch ihre Viertelfinalpartie und steht am Samstag in der Vorschlussrunde der Bezwingerin von Kristin Silbereisen gegenüber, Mu Zi. Die Halbfinals sind eine rein chinesische Angelegenheit, das zweite Spiel bestreiten Titelverteidigerin Li Xiaoxia und die Weltranglisten-Zweite Liu Shiwen.
Franziskas Leistung ein kleines Wunder
Zurück zu Patrick Franziska: Seine Leistung bei den Weltmeisterschaften könnte man ein kleines Wunder nennen, sieben Monate nach seiner schweren Fußverletzung. Bei den Europameisterschaften Ende September in Lissabon verletzte sich der Ein-Meter-90-Mann im zweiten Gruppenspiel gegen Gastgeber Portugal schwer am Fuß. Das vordere Syndesmoseband im linken Sprunggelenk war gerissen, das wichtig ist für die Stabilität des Beines und Schien- mit Wadenbein verbindet. Eine Operation war fällig, das beschädigte Band wurde mit einer Schraube fixiert, die nach sechs Wochen in einer weiteren OP entfernt wurde. Danach ein Monat Reha, im Anschluss vorsichtiger Belastungsaufbau im Tischtennis.
„Man hat in der Zeit manchmal seine Phasen, in denen man richtig down ist. Man hat eben viel Zeit zum Nachdenken, weil man nicht viel zu tun hat“, beschreibt er. Den Großteil der Zeit habe er allerdings positiv gedacht und an sein Comeback geglaubt. Seine Familie und seine Freunde haben ihn unterstützt und ihn oft besucht, den größten Rückhalt fand er bei seiner schwedischen Freundin Frida, mit der er in Düsseldorf zusammenlebt, und seinen Eltern. In der Weltrangliste verlor er zwischen September und März 20 Plätze, war im Februar wegen Inaktivität sogar kurzzeitig mal nicht mehr im Ranking geführt.
Geduld bei der mühevollen Arbeit am Comeback
Derweil arbeitete er zwei Einheiten pro Tag intensiv mit Borussia-Physiotherapeut Ole Nauert. Nach zehn Wochen spielte Franziska vorsichtig seine ersten Bälle übers Netz. Im Training ging es von Woche zu Woche besser. „Das Training hat mega Spaß gemacht“, schildert es „Franz“, „aber ich konnte das Spiel nicht mehr gut lesen und konnte nicht richtig voraussehen, wo die Bälle hingehen würden“. Am 18. Januar gab er gegen Bremen sein Comeback in der Bundesliga, die Erfolge ließen aber noch ein bisschen auf sich warten. „Rossi hat mir sehr geholfen und mir oft gesagt, dass man Geduld mit sich haben muss und es irgendwann zurückkommen würde.“
Am 3. Februar im Spiel gegen Ochsenhausen – ein 3:2 im Abschlusseinzel gegen Hugo Calderano – war es sein erster Sieg seit der Verletzung, der ihm endgültig das Gefühl gab, er würde sehr bald wieder zu alter Form zurückfinden. „Ich war danach so richtig happy. Auch das Einzel davor gegen Pitchford hatte ich nur knapp verloren. Er und Calderano sind zwei Spieler, gegen die ich auch in guter Form nicht unbedingt gewinne. Ab da ging’s aufwärts, auch wenn ich danach auch ein paar schlechtere Spiele gemacht habe.“
Boll: "Vielleicht hatte die Verletzung ihr Gutes"
Die Qatar Open Mitte Februar waren sein erstes internationales Turnier. Bei den German Open in Bremen vier Wochen später gewann er an der Seite von Timo Boll den Doppelwettbewerb. Mit Borussia Düsseldorf zog er in die Endspiele um Meisterschaft und Champions League ein. „Ich habe zwar zum Schluss in der Liga gut gespielt, wusste aber nach der Verletzung trotzdem nicht genau, wo ich stehe“, sagt er jetzt. Spätestens jetzt hat er darüber Klarheit.
Timo Boll glaubt, dass seinem Kumpel die lange Pause nicht unbedingt geschadet haben muss. „Sein Erfolg freut mich für Patrick auch wegen seiner Verletzung zum Anfang der Saison. Vielleicht hatte die auch ihr Gutes: Jetzt ist er frisch und nicht so überspielt wie einige andere“, mutmaßt Boll. Gewissheit gibt es dabei nicht. „Eine Verletzungspause ist kein Urlaub von drei Monaten. Für den Kopf ist das nicht einfach“, so Patrick Franziska. Ein paar positive Anhaltspunkte gibt es immerhin. Er hat stark auf seine Ernährung geachtet und etwas Muskelmasse abgebaut, ist jetzt vier Kilo leichter als vor der Verletzung und fühlt sich damit besser. „Die Reha ist auch eine kleine Erneuerung, denn da konnte ich an ein paar Defiziten arbeiten, die du als Tischtennisspieler mit der einseitigen Belastung eben hast.“ In der Hüfte ist er deutlich beweglicher geworden, hat noch gezielter die Oberschenkel-Muskulatur aufgebaut und viel an der Schnelligkeit gearbeitet. Das hilft ihm jetzt.
Leichtfüßig, aber schlaflos
Schon am Donnerstag gegen den Weltranglisten-Achten präsentierte er sich leichtfüßig, nervenstark, spielte zur rechten Zeit druckvoll und insgesamt taktisch sehr klug, einfach „sensationell gut“ wie Jörg Roßkopf befand. So soll es am Samstag gegen Fang Bo auch gehen. Ein bisschen schlaucht Patrick Franziska allerdings der wenige Schlaf, den er in Suzhou bekommt. Zu Hause seien das häufig über neun Stunden, in China in den vergangenen Nächten nur fünf oder sechs. „Das kenne ich schon von der Mannschafts-WM in Tokio vor dem Halbfinale und Finale. Negativ ausgewirkt hat sich der Schlafmangel auf mein Spiel hier bisher nicht“, sagt er und fügt mit einem Grinsen hinzu: „Es wird schon gehen. Sind ja nur noch zwei Nächte bis zum Finale.“
Herren-Einzel, Achtelfinale
Timo Boll - Wong Chun Ting HKG 4:1 (9,8,-3,10,13)
Patrick Franziska - Kou Lei UKR 4:2 (-7,-8,8,6,9,8)
Viertelfinale am Samstag
Franziska - Fang Bo CHN, 9 Uhr deutscher Zeit (15 Uhr CHN)
Boll - Fan Zhendong CHN, 10 Uhr (16 CHN)
Ma Long CHN - Tang Peng HKG, 8 Uhr (14 CHN)
Zhang Jike CHN - Jun Mizutani JPN, 12.45 Uhr (18.45 CHN)
Halbfinale und Finale am Sonntag
Damen-Einzel, Achtelfinale am Freitag
Irene Ivancan - Ding Ning CHN 0:4 (-4,-7,-9,-8)
(...)
Halbfinale am Samstag um 6 und 7 Uhr deutscher Zeit (12 und 13 Uhr CHN)
Ding Ning CHN - Mu Zi CHN
Li Xiaoxia CHN - Liu Shiwen CHN
Finale am Samstag um 14 Uhr (20 Uhr CHN)