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Der Moment der Niederlage für Franziska/Ovtcharov (Foto: MS)
Die 57. Medaille für Tischtennis-Deutschland in der 97-jährigen Geschichte der Weltmeisterschaften ist eine bronzene

Nach der Halbfinal-Niederlage leistet Spaßvogel Boll Aufbauarbeit bei seinen enttäuschten Freunden

SH 26.05.2023

Durban. Es gibt da ein Video, das Timo Boll, den Schalk im Nacken, mannschaftsintern via WhatsApp verschickt hat. Auf dem großen Fernseher im heimischen Wohnzimmer in Höchst im Odenwald läuft der Livestream vom Doppel-Halbfinale bei den Weltmeisterschaften in Durban. Es ist Satzpause und steht 1:1 zwischen dem deutschen Überraschungsdoppel Patrick Franziska/Dimitrij Ovtcharov gegen die an Position zwei Gesetzten Südkoreaner Jang Woojin/Lim Jonghoon. Vor dem Fernseher auf der Couch liegt der rekonvaleszente Superstar, seine rechte Hand ruht auf dem Rücken von Hündin Angel. Der Nationalteamkollege und gute Kumpel von Franziska und Ovtcharov hat die Augen geschlossen, sein Mund ist leicht geöffnet. Unter dem Video kommentiert er mit dem Tränen lachenden Emoji. „Nix gesehen, bin eingepennt.“

Nach dem Spiel stehen Patrick Franziska und Dimitrij Ovtcharov tieftraurig in der Mixed Zone, wo unmittelbar nach Matchende die Spieler auf die Journalisten treffen. Sie haben in der Partie um den Einzug ins WM-Endspiel ihre Chancen gegen die favorisierten Jang und Lim gehabt und verpasst, die schon vor zwei Jahren im Doppel-Finale gestanden hatten und in der Regel nur von Chinas Assen geschlagen werden können. Wenn die beiden Deutschen später das Video von Spaßvogel Boll sehen werden, wird es dazu beitragen, die Freunde wieder aufzubauen. Denn ganz sicher haben sie eine nahezu historische Leistung erbracht und natürlich hat der Rekord-Europameister beim Doppel des Jahres am Freitagnachmittag nicht mal für eine Sekunde geschlafen.

Dritte Medaille für ein deutsches Herren-Doppel in der WM-Geschichte

Abgesehen von der engen persönlichen Beziehung zu seinen Freunden war das erst dritte WM-Halbfinale unter Beteiligung eines deutschen Herren-Doppels in der 97-jährigen Geschichte von Tischtennis-Weltmeisterschaften nach dem Gold des Duos Steffen Fetzner/Jörg Roßkopf 1989 und dem Silber von Timo Boll und Christian Süß im Jahr 2005 zu spannend, um auch nur ein einziges Auge zuzumachen.

Nach verlorenem ersten Durchgang gegen die Südkoreaner – wo der 25-jährige Linkshänder Lim Jonghoon als Rückschläger von Ovtcharov mit seiner Rückhand-Banane gegen Patrick Franziska gleich fünf Mal zum Punkt kam – lief es für Franziska/Ovtcharov in den Durchgängen zwei und drei rund. Lim kam mit Franziskas Service deutlich schlechter zurecht. Das deutsche Duo spielte seine Kontrahenten außerdem vermehrt kurz über dem Tisch an oder halblang, sodass er Ball knapp hinter der Grundlinie herunterfiel und die Koreaner mit ihrer Vorhand-orientierten Spielweise und den langen Vorhand-Topspin-Bewegungen nicht so druckvoll eröffnen konnten. Stattdessen präsentierte sich die Saarbrücker-Neu-Ulmer Kombination, die erst durch den verletzungsbedingten Ausfall Bolls kurzfristig und ohne viel Training das zweite deutsche WM-Doppel im ICC Durban bildete, wie in der Runden zuvor aggressiv und risikofreudig. Und ging mit 2:1 in Führung.

In Satz vier kämpfte sich das Duo, das zuvor lediglich bei den German Open 2020 in Magdeburg gemeinsam angetreten war, von 3:8 und 6:10 mit einem Kraftakt zurück, als Ovtcharov beim Stand von 9:10 im Vierten bei Rückschlag von Lim einen Ball liegen hatte, „den er 99 von 100 Mal trifft“, wie Patrick Franziska später kommentieren wird. „Ich hatte das Gefühl, dass sie echt nervös sind“, beschreibt Ovtcharov die Situation. „Lim hat den Ball leicht wie einen Streifschuss mit der Rückhand angezogen, so hoch, aber mit sehr viel Spin. Darauf habe ich dann den ärgerlichen Fehler gemacht.“ Der harte diagonale Rückhand-Gegenzieher des früheren Weltranglistenersten landete im Aus.

Boll: „Ärgerliche Anti-Serie im Fünften“

Nach ausgeglichenem Beginn im Entscheidungssatz folgte etwas, das Timo Boll eine „ärgerliche Anti-Serie“ nennt, „ohne die es vielleicht zu mehr gekommen wäre“ (Zitat Boll).

Ovtcharov führt aus: „Im letzten Satz setze ich bei 4:3 einen Gegenspin zwei Millimeter ins Aus. Bei 4:4 war mein Flip ein bisschen zu vorsichtig. Danach bei 4:5 dann der Fehlaufschlag von Patrick“, so der ehemaligen World-Cup-Sieger. „So sind drei unserer Punkte weggegangen. Es folgten zwei schlechte Rückschläge von mir, und dann steht es 4:8 – das war die ärgerliche Mitte des fünften Satzes.“ Die Olympia-Silbermedaillengewinner von Tokio mit der Mannschaft ließen etwas nach, die Südkoreaner, nun voller Selbstvertrauen, ließen sich diese Chance nicht mehr nehmen und zogen schließlich mit 11:7, 5:11, 8:11, 11:9 und 11:5 ins Endspiel ein. Ihre Gegner im Finale am Samstag werden später am Abend zwischen ihren Teamkollegen Cho Daeseong/Lee Sang Su und den topgesetzten Chinesen Fan Zhendong/Wang Chuqin ermittelt.

Franziska: „Wir sind gerade beide echt enttäuscht, aber heute Abend schütteln wir das ab“

„Es ist toll für uns und für Deutschland, eine Doppel-Medaille geholt zu haben. Das hatte mit Sicherheit niemand erwartet“, versucht der Spieler mit den meisten Olympia-Medaillen im Tischtennis, Ovtcharov, noch in der Mixed Zone sich selbst die gute Seite dieses WM-Turniers vor Augen zu führen, ergänzt aber direkt: „Wir sind jetzt echt enttäuscht. Wir haben heute unser bestes Doppel gespielt, unsere beste Leistung gezeigt und waren zwischenzeitlich besser als unsere Gegner, die ja saustark sind. Wir hätten es heute auch verdient gehabt zu gewinnen.“

Patrick Franziska ist sicher: „Wir sind gerade beide echt enttäuscht, aber heute Abend schütteln wir das ab und nehmen ein Kaltgetränk auf Bronze“, sagt der 30-jährige WM-Dritte im Mixed von 2019 in Diensten des 1. FC Saarbrücken TT. „Heute Abend wird auf jeden Fall gefeiert! Wir hatten beide noch keine Doppelmedaille. Die gab’s auch schon lange nicht mehr für den Deutschen Tischtennis-Bund.“

Timo Boll bangt derweil scherzhaft schon um seinen zwölf Jahre jüngeren Traum-Doppelpartner Franziska, mit dem ihm nicht nur der Odenwald als gemeinsame Geburtsregion und der TSV Höchst als allererster Verein verbinden, sondern an dessen Seite er zahlreiche Turniere wie die German und China Open gewonnen hatte. „Dem Dima muss ich schon ordentlich gegen seinen Knöchel treten, um wieder mit Franz Doppel spielen zu dürfen“, witzelt der Schelm.

Stimmen zum Spiel

Timo Boll: „Es ist super schade. Es sah nicht schlecht aus, und gerade dafür, dass sie nicht wirklich vorher zusammen trainiert hatten, haben sie verdammt gut gespielt. Im Halbfinale war mehr drin. Die beiden haben ein gefährliches Spiel mit sehr viel Durchschlagskraft. Diese Anti-Serie im fünften Satz ist sehr ärgerlich, sonst wäre es vielleicht zu mehr gekommen.“

WM-Bilanz von Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf: „In der ergebnisorientierten Analyse haben wir uns mehr erhofft, aber das haben wohl die meisten Nationen. Am Ende haben wir hier eine Medaille geholt, und das ist ein herausragendes Ergebnis. Bei den Damen haben wir sehr stark gespielt, und mit der Medaille für dieses Doppel hat niemand gerechnet, auch wenn die Jungs in jede Partie mit viel Selbstvertrauen gegangen sind. Natürlich kann man sagen, wir hätten im Einzel ein, zwei Spiele mehr gewinnen müssen. Ich sehe es aber realistisch: Es waren jeweils Spiele gegen Gegner, die an dem Tag sehr, sehr gut gespielt haben. Wir wissen, dass wir, um zu steigern, viele Trainingssessions brauchen, um unsere Spieler insgesamt auf ein noch besseres Niveau zu bringen.
Deutschland hat jetzt zum vierten Mal hintereinander eine Medaille bei Individual-Weltmeisterschaften gewonnen und seit 1989 gefühlt bei jeder großen Veranstaltung einen großen Erfolg, eine Medaille geholt haben. Das steht auf jeden Fall.
Dass wir im Einzel drei Spiele im siebten Satz verloren haben, lag nicht am Quäntchen Glück, sondern an der fehlenden Substanz, am Ende noch mal etwas zulegen zu können. Vor allem im siebten Satz haben sie viele einfache Fehler gemacht, die nicht passieren dürfen, gerade dann nicht, wenn man die zweitbeste Nation der Welt ist und den Anspruch hat, gut zu spielen. Wir wissen, warum es passiert ist und werden daran arbeiten. Eine WM-Spielanalyse ist gut und wichtig, aber entscheidend ist, was in der Trainingshalle passiert. Da haben wir aufgrund des überfrachteten Terminkalenders der Spieler zu wenig machen können.
Bei den großen Meisterschaften gibt es immer viele Überraschungen und am Ende oft nur ein, zwei Bälle, die über Sieg und Niederlage entscheiden. Über die letzten 30 Jahren haben wir diese ein, zwei Bälle oft auf unserer Seite gehabt. Wir haben auch hier wieder eine Medaille geholt."

Ausblick:
"Europa muss generell daran arbeiten, dass nicht zu viele Asiaten oben auf dem Treppchen stehen. Wir wissen, dass es viele gute Nationen auch in Europa gibt. Wir sind die Letzten, die sagen, bei uns ist immer alles gut, sondern wir gehen jedes Mal mit viel Demut in ein Turnier, ob bei den European Games, den Europameisterschaften oder im nächsten Jahr bei den Olympischen Spielen. Man muss immer viel Herzblut hineinlegen, um am Ende eine Medaille zu holen.

Über die WM-Gastgebernation
"Die WM war insgesamt gut organisiert. Die Südafrikaner haben sich sehr viel Mühe gegeben, und es hat uns großen Spaß gemacht, hier zu spielen.“

Die Ergebnisse der Deutschen am Freitag

Herren-Doppel, Halbfinale
Patrick Franziska/Dimitrij Ovtcharov - Jang Woojin/Lim Jonghoon KOR 2:3 (-7,5,8,-9,-5)
Fan Zhendong/Wang Chuqin CHN - Cho Daeseong/Lee Sang Su KOR, 19.10 Uhr

Damen-Einzel, Achtelfinale
Ying Han - Sun Yingsha CHN 0:4 (-6,-8,-6,-5)

Deutsches Aufgebot in Durban

Einzel-Wettbewerbe

Damen: Ying Han (KTS Tarnobrzeg, Polen), Nina Mittelham (ttc berlin eastside), Shan Xiaona (ttc berlin eastside), Sabine Winter (TSV Schwabhausen), Annett Kaufmann (SV Böblingen)

Herren: Dang Qiu (Borussia Düsseldorf), Dimitrij Ovtcharov (TTC Neu-Ulm), Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken TT), Ruwen Filus (TTC RhönSprudel Fulda-Maberzell), Benedikt Duda (TTC Schwalbe Bergneustadt)

Doppel-Wettbewerbe

  • Damen: Nina Mittelham/Xiaona Shan, Annett Kaufmann/Sabine Winter
  • Herren: Benedikt Duda/Dang Qiu, Patrick Franziska/Dimitrij Ovtcharov
  • Mixed: Dang Qiu/Nina Mittelham, Patrick Franziska/Xiaona Shan                                 

Sportliche Leitung: Richard Prause (Sportdirektor)
Trainerteam: Tamara Boros (Bundestrainerin Damen), Jörg Roßkopf (Bundestrainer Herren), Lars Hielscher (Cheftrainer Düsseldorf), Xiaoyong Zhu (Bundesstützpunkttrainer), Sascha Nimtz (Experte für Videoanalysen, Wissenschaftskoordinator IAT Leipzig)
Medizinische Abteilung: Dr. Antonius Kass (Teamarzt), Dr. Christian Zepp (Sportpsychologischer Experte), Peter Heckert, Annette Zischka (Physiotherapeuten, OSP Hessen in Frankfurt/Main)
Organisationsleiter: Rainer Kruschel (Leiter Referat Leistungssport)

Weitere DTTB-Vertreter:
Dr. Torsten Küneth (Equipment Committee)
Schiedsrichter: Michael Zwipp (Oberschiedsrichter, Langen), Kerstin Duchatz (Herne)
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Benedikt Probst, Manfred Schillings (beide DTTB)

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