Tokio. Die Deutschen bleiben in den Tischtenniswettbewerben der Olympischen Spiele von Tokio ein Garant fürs Drama. Nach einem dreistündigen 3:2-Sieg über Taiwan im Viertelfinale stehen Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll und Patrick Franziska zum vierten Mal in einem olympischen Team-Halbfinale. Es war eine geschlossene Mannschaftsleistung, die die Mannschaft von Bundestrainer Jörg Roßkopf und Assistenztrainer Lars Hielscher gegen das Lin-Yun-Ju-Team zeigte: Das Duo Boll/Franziska, Timo Boll und zum Abschluss Dima Ovtcharov steuerten jeweils einen Punkt zum Einzug in die Vorschlussrunde gegen Japan bei (Mittwoch, 12.30 Uhr MESZ). In der oberen Hälfte des Tableaus stehen sich Titelverteidiger China und die an Position vier gesetzten Südkoreaner gegenüber (Mittwoch, 7.30 Uhr MESZ). "Es war gegen Taiwan das erwartet schwere Spiel, und morgen gegen Japan müssen wir noch besser sein", kommentierte Coach Roßkopf. "Die Japaner haben ihre Mannschaft heute gegen Schweden mit Harimoto im Doppel und Mizutani mit zwei Einzeln umgestellt. Mal sehen, wie sie gegen uns spielen."
Nach dem Krimi der deutschen Damen am frühen Morgen gegen die Südkoreanerinnen kosteten auch die Herren den Fans an den Bildschirmen durchgehend Nerven. Schon das Doppel verlief kurios. Nachdem Timo Boll/Patrick Franziska gegen Chen Chien-An/Chuang Chih-Yuan loslegten wie die Feuerwehr und die Weltmeister-Kombination von 2013 mit der 11:0-Höchststrafe im ersten Satz abfertigten, verlief Durchgang zwei fast umgekehrt, auch wenn Boll/Franziska am Ende auf sechs Punkte verkürzen konnten. Erneut andersherum war dann Satz drei und zum Vorteil der deutschen Dritten der ITTF Grand Finals von 2019. In Durchgang vier stellten Boll/Franziska ihre Comebacker-Qualitäten unter Beweis, nachdem Chen/Chuang mit 5:0 davongezogen waren und beim Stand von 8:10 zwei Satzbälle hatten, und brachten Deutschland mit 1:0 in Führung. "Das Doppel war wichtig. Hätten wir das verloren, hätte das viel Stress gebracht", sagte Rekord-Europameister Timo Boll und erklärte: "Nach einem super Start hat dann die andere Konstellation von der Stellung her nicht so funktioniert. Außerdem sind sie stärker geworden. Wir haben uns dann reingebissen."
Ovtcharov vs. Lin: Wiedersehen ohne Déjà-vu
Dimitrij Ovtcharovs Wiedersehen mit Lin Yun-Ju, drei Tage nach seinem Einzel-Triumph, war nur fast ein Déjà-vu. Denn diesmal fehlte das Happy End für den 32-jährigen Bronzemedaillengewinner von Tokio. In einem 56-minütigen Weltklasse-Duell hatte diesmal der 13 Jahre jüngere Weltranglistensechste das bessere Ende für sich.
Erneut stellte der World-Cup-Sieger von 2017 seine große Nervenstärke unter Beweis. Nach abgewehrtem Satzball sicherte er sich Durchgang eins mit 12:10. In Satz zwei war es dann Lin, der bei 9:10 aus seiner Sicht die 2:0-Satzführung für den Deutschen zu verhindern und sich selbst mit 14:12 durchzusetzen wusste. Nachdem Lin Ovtcharov im dritten Satz uneinholbar davongeeilt war, endete der vierte Satz in der Verlängerung. Der Tokio-Fahnenträgerkandidat wehrte bei 10:11 den ersten Matchball seines Kontrahenten ab und zwang ihn in den Entscheidungsdurchgang. Beim Stand von 7:7 unterlief dem „Silent Assassin“, wie er wegen seiner ruhigen Ausstrahlung auf seinen Siegeszügen international genannt wird, allerdings kein einziger Fehler mehr. "Das Spiel war mega intensiv. Lin hat unfassbar gute Bälle gespielt", lobte Bundestrainer Roßkopf den Kontrahenten, bei dem er sogar eine erneute Steigerung gegenüber dem Bronze-Match ausmachte.
Starker Franziska setzt Lin unter Druck / Boll souverän
Auch in den entscheidenden Phasen gegen Patrick Franziska sollte Lin im vierten Spiel immer den kühleren Kopf von beiden im schwül-warmen Tokyo Metropolitan Gymnasium behalten, nachdem Timo Boll im dritten Spiel einen unangefochtenen 3:0-Sieg im Linkshänder-Duell mit Chen Chien-An herausgespielt hatte.
Patrick Franziska präsentierte sich bei seinem ersten Einzel-Auftritt in Tokio spielstark und konzentriert, hielt gegen Favorit Lin mehr als nur gut mit – im ersten Satz bis zu einem 9:9; im zweiten erspielte er sich sogar eine 7:5-Führung sowie einen Satzball bei 10:9. Erst im dritten Durchgang war der Faden bei der Nummer fünf Europas gerissen. Lin verschaffte sich durch seine Aufschläge den größeren Vorteil und hatte bei den Rallyes die Nase vorn. "Patrick hat ein super Doppel mit Timo gespielt und gegen Lin im ersten und zweiten Satz richtig gut gespielt. Das gibt ihm Selbstvertrauen", ist der Bundestrainer sicher. "Es gibt einfachere erste Einzel bei so einem Turnier", flachste Franziska. "Wir haben wieder ein sehr gutes Doppel gespielt. Auch im Einzel war ich echt zufrieden. Es war ein bisschen schade, dass ich keinen der ersten beiden Sätze gewonnen habe. Lin ist einfach ein sehr starker Spieler."
Ovtcharov über Japan: "Es ist gefühlt in jedem Spiel alles möglich"
So war es Dimitrij Ovtcharov, der für das entscheidende Spiel in die Box steigen musste. Er wurde den Hoffnungen und Erwartungen seiner Mannschaft gegen den 40-jährigen Chuang gerecht. Es war die Neuauflage des Spiels um Einzel-Bronze in London 2012, das Ovtcharov gewonnen hatte. Nach zwei knappen Sätzen für Ovtcharov schien dann die Gegenwehr Chuangs bei 4:10 gebrochen, doch der Grand-Finals-Sieger von 2002 steckte noch nicht auf. Ovtcharov sicherte schließlich mit seinem verwandelten dritten Matchball den erlösenden Siegpunkt für seine Mannschaft. "Dieses lange Turnier wird auch physisch langsam hart für mich, nicht nur psychisch. Es sind harte Spiele gegen starke Gegner", so der Weltranglistenachte.
Ovtcharovs Blick ging auch voraus: "Mit Harimoto, Mizutani und Koki Niwa sind die Japaner auf allen drei Positionen stark besetzt im Vergleich zu den Taiwanesen, bei denen Chen Chien-An heute ein bisschen abgefallen ist. Wir sind alle drei gut drauf. Es ist gefühlt in jedem Spiel alles möglich. Ich erwarte ein ganz enges Spiel, aber wir haben das Ziel, ins Finale zu kommen." Es ist das dritte Halbfinale der Herren bei Olympia gegen Japan nach 2008 (3:2) und 2016 (1:3).
Deutschlands Damen treffen am Mittwoch um 3 Uhr MESZ erwartungsgemäß auf Titelverteidiger China, das Singapur mit nur einem Satzverlust besiegte. Das zweite Halbfinale zwischen Japan und Hongkong wird bereits am heutigen Dienstag ausgetragen (12.30 Uhr MESZ).
Herren-Mannschaft, Viertelfinale
Deutschland – Taiwan 3:2
Timo Boll/Patrick Franziska - Chuang Chih-Yuan/Chen Chien-An 3:1 (0,-6,6,10)
Dimitrij Ovtcharov - Lin Yun-Ju 2:3 (10,-12,-7,12,-7)
Timo Boll - Chen Chien-An 3:0 (4,4,6)
Patrick Franziska - Lin Yun-Ju 0:3 (-9,-11,-6)
Dimitrij Ovtcharov - Chuang Chih-Yuan 3:0 (8,9,7)
China – Frankreich 3:0
Südkorea – Brasilien 3:0
Japan – Schweden 3:1
Halbfinals am 4. August
Deutschland - Japan, Mittwoch, 12.30 Uhr
China - Südkorea, Mittwoch, 7.30 Uhr
Spiele um Gold und Bronze am 6. August
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Herren-Team: Dimitrij Ovtcharov (Fakel Gazprom Orenburg, Russland), Timo Boll (Borussia Düsseldorf), Patrick Franziska (1. FC Saarbrücken TT), Ergänzungsspieler: Benedikt Duda (TTC Schwalbe Bergneustadt)
Damen-Team: Petrissa Solja (TSV Langstadt), Han Ying (KTS Enea Siarka Tarnobrzeg, Polen), Shan Xiaona (ttc berlin eastside), Ergänzungsspielerin: Nina Mittelham (ttc berlin eastside)
Herren-Einzel: Dimitrij Ovtcharov, Timo Boll
Damen-Einzel: Petrissa Solja, Han Ying
Gemischtes Doppel: Patrick Franziska/Petrissa Solja
Teilmannschaftsleiter: Richard Prause (Sportdirektor)
Trainer-Team: Jörg Roßkopf (Bundestrainer Herren), Jie Schöpp (Bundestrainerin Damen), Lars Hielscher (Assistenztrainer)
Physiotherapeut: Peter Heckert (OSP Hessen)
Arzt: Dr. Antonius Kass (Düsseldorf)
Schiedsrichterin: Anja Gersdorf (Düsseldorf)
Öffentlichkeitsarbeit: Benedikt Probst (Frankfurt/Main)