Bremen. Als Helmut Hampl, der Entdecker und Förderer von Timo Boll, vor knapp 15 Jahren einmal gefragt wurde, ob er bereits einen potenziellen Nachfolger für die deutsche Nummer eins sehe, wollte der Tischtennis-Fachmann sich nicht festlegen. „Zwei oder drei“ besondere Talente habe er schon in seinen Reihen, bemerkte der damalige hessische Landestrainer. Eines davon war Patrick Franziska, ein Junge, der sich schon früh durch eine angeborene Spielintelligenz und die Gabe, die Schwächen seines Gegners erkennen und für sich nutzen zu können, auszeichnete.
Einer von mehreren, das sollte Franziska auch im Kreis des Nationalteams der Männer später noch längere Zeit bleiben, obwohl er zeitig herausragende Erfolge einspielte. 2010 etwa sicherte er sich in Istanbul den Titel des Jugend-Europameisters, gewann 2012 die Grand Finals der U21 in Hangzhou und stand 2015 bei den Weltmeisterschaften im Herren-Einzel in Suzhou im Viertelfinale. Doch sein schnell in die Höhe wachsender, mittlerweile knapp 1,90 Meter langer Körper machte dem in Bensheim geborenen Hessen oft zu schaffen.
„Jeder ist zu knacken, auch die Chinesen“
Mittlerweile hat er ihn besser im Griff, ist, wie er selbst sagt, „athletischer geworden“, auch weil der ehrgeizige Sportler mehr dafür investiert. Das und die konstante Entwicklung, die sich daraus ergab, haben Franziska in den vergangenen Monaten geholfen, sich aus dem Schatten zu lösen, den die beiden Spitzenspieler des Deutschen Tischtennis-Bundes, Timo Boll und Dimitrij Ovtcharov, stets auf ihre Mannschaftskollegen warfen. Der jetzt 27-Jährige ist nicht nur die unumstrittene Nummer drei im Aufgebot für Großereignisse, sondern gilt sogar als Kandidat für einen der beiden Einzelstartplätze bei den Olympischen Spielen im nächsten Jahr in Tokio. „Ich habe derzeit drei Spieler auf dem gleichen Level“, bestätigt Bundestrainer Jörg Roßkopf. Und Franziska sei „sehr gefährlich“.
In der Weltrangliste steht der Rechtshänder im September als 15. unter den Top 20. Noch bewusster macht jedoch seinen Aufstieg, dass es ihm in diesem Jahr gelang, gleich zwei starke Kontrahenten aus China, Fan Zhendong und Liang Jinkun, zu schlagen und den aktuell die internationale Szene dominierenden Xu Xin, seinen Bezwinger bei den German Open 2018 in Bremen, im Halbfinale der Australian Open an den Rand einer Niederlage zu bringen. „Das beste Spiel, das ich je gemacht habe“, nennt Franziska diesen Auftritt. Genau solche Darbietungen und Erlebnisse seien es, für die er jeden Tag trainiert und sich schindet.
Die Überzeugung, sich gegen die Vertreter der scheinbar unschlagbaren Tischtennis-Nation durchsetzen zu können, hatte dem Team-Europameister zuvor im Achtelfinale das Duell mit World-Cup-Gewinner Fan vermittelt, in dem er einen 0:2-Satzrückstand ausglich. Während der Aufholjagd hatte sich allmählich das Gefühl eingeschlichen, dass sein Gegenüber diesmal verwundbar war. „Das kannte ich vorher nicht“, erzählt Franziska. Aus dieser Empfindung zog er die nötige Kraft, den zuvor 15 Monate an Position eins der Weltrangliste notierten Asiaten niederzuringen. Seitdem ist er davon überzeugt, „jeden Spieler knacken zu können“.
Selbstverwirklichung in Saarbrücken
Die mentale Komponente ist äußerst wichtig beim Tischtennis. Sie entscheidet auf höchstem Niveau darüber, wer gewinnt und wer, selbst bei vermeintlichen Vorteilen, den Kürzeren zieht. Franziska, der seit einiger Zeit mit Mentaltrainer Christian Zepp zusammenarbeitet, hat zuletzt viel Selbstvertrauen entwickelt. Auch, weil er bereit war, einen Befreiungsschlag zu wagen. Vor drei Jahren hatte er das Deutsche Tischtennis-Zentrum in Düsseldorf und den dortigen Bundesligisten und Rekordmeister Borussia verlassen, um zum 1. FC Saarbrücken zu wechseln. Er wollte seinen eigenen Weg gehen, mehr auf sich selbst hören und selbst bestimmen, was er wann und wie zu trainieren hat, wie er seinen Alltag am und neben dem Tisch gestaltet. Im Spiel, so erklärt er, sei er ja auch auf sich allein gestellt. Der Schritt, der kein leichter war und in der Szene für einige Überraschung sorgte, hat ihm gutgetan. Im Saarland ist Franziska trotz seiner jungen Jahre der Anführer, zieht Energie daraus, dass er nun für die anderen ein Vorbild, ein Helfer ist. So wie Timo Boll das einst für ihn selbst war.
Vieles verbindet die beiden, deren Beziehung längst zu einer Freundschaft gereift ist. Wie der Ältere begann der Südhesse Franziska seine Karriere beim TSV Höchst im Odenwald, wurde dort zweitweise von Bolls Vater Wolfgang trainiert und später von Hampl weitergebracht. Im Haus des Nationalteamkollegen ist er ein gern gesehener Gast. Bolls Tochter Zoey fällt es bei direkten Auseinandersetzungen wie dem verlorenen Europameisterschaftsfinale 2018 in Alicante sogar schwer, sich zu entscheiden, wer die Nase vorne haben soll.
Auch im Einzel ein Kandidat für Tokio
Zuletzt sah man die beiden auch wieder öfter im Wettbewerb Seite an Seite. Im Finale der China Open beispielsweise bezwang das Duo die einheimischen Weltmeister Ma Long und Wang Chuqin. Das Doppel spielt im olympischen Teamwettbewerb eine wichtige Rolle. „Wir harmonieren unglaublich“, betont Franziska, der mit Boll bereits die German Open 2013 und 2015 gewann, aber auch für andere ein geeigneter Partner ist. Mit dem Dänen Jonathan Groth war er 2016 Doppel-Europameister, im Mixed mit der Langstädterin Petrissa Solja sprang bei der WM in diesem Jahr in Budapest Bronze heraus. Zudem sicherte sich das gemischte Duo bei den European Games in Minsk den Sieg und damit die Olympia-Qualifikation in diesem Wettbewerb, der in Tokio seine Premiere im Programm der Spiele feiert.
Die Vielseitigkeit bringt für Franziska Vor- und Nachteile mit sich. Einerseits pushen die zusätzlichen Erfolge noch weiter den Glauben an die eigene Stärke. Doch bei Großereignissen, bei denen mehrere Starts möglich sind, steigt damit auch die in der Tischtennis-Welt sowieso schon sehr hohe Belastung. Bei der EM 2018 stellte das für den Sportler kein Problem dar, reichte die neue Power für gleich drei Bronzemedaillen - in Einzel, Doppel und Mixed. Bei Olympischen Spielen allerdings ist durch das Drumherum alles noch ein bisschen schwieriger. 2016 in Rio war Franziska als Ersatzmann dabei und durfte nur von der Tribüne aus den anderen zusehen. Diesmal dürfte sich, sollte er gesund bleiben, nur die Frage stellen, ob er neben Team- und Mixed-Teilnahme auch einen Part als Solist übernimmt.
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