Chengdu/Düsseldorf. „Das ist eine Erinnerung für ein ganzes Leben“, sagt Tamara Boros über die außergewöhnliche WM in Chengdu. Es war die erste Weltmeisterschaft in ihrer Position als verantwortlicher Coach für die seit 2021 amtierende Bundestrainerin, die Kampfgeist, Teamspirit und Selbstvertrauen auszeichnen.
Man hört es Richard Prause an, dass er mit der Arbeit von Boros seit ihrer Amtsübernahme zufrieden ist. Der DTTB-Sportdirektor macht daraus auch keinen Hehl: „Tamara Boros ist ein absoluter Glücksfall“, sagt er über die 44-Jährige, die in ihrer aktiven Zeit selbst viele Erfolge für die kroatische Nationalmannschaft gefeiert hat. Lange Zeit war sie die beste Europäerin, sogar beste Nicht-Chinesin in der Weltrangliste, holte bei der WM in Paris 2003 Bronze im Einzel. Sie nahm an vier Olympischen Spielen teil, wo sie insgesamt dreimal im Viertelfinale stand. Bei Europameisterschaften gewann sie 13 Medaillen, darunter dreimal den Titel im Doppel an der Seite der heutigen Nationaltrainerin Rumäniens, Mihaela Steff.
Tischtennis: Das Formen von Individuen zu einer Mannschaft
Als Coach legt sie Wert auf Kommunikation und die individuellen Eigenschaften ihrer Spielerinnen. „Denn für einen Trainer im Tischtennis ist die zusätzliche Aufgabe immer ein Formen von Individuen zur Mannschaft. Auch dies gelingt ihr perfekt“, meint Prause. In Chengdu hat das Team erneut von dieser Fähigkeit profitiert wie schon 2021 bei der Team-EM in Cluj, die mit Gold für Nina Mittelham, Sabine Winter, Chantal Mantz und Annett Kaufmann geendet hatte. Bei der WM waren es die ersten Welttitelkämpfe in dieser Formation bestehend aus Ying Han, Nina Mittelham, Xiaona Shan, Sabine Winter und Annett Kaufmann.
Der Teamspirit war über das ganze Turnier hinweg zu spüren, was Boros auch selbst sagt. „Ich habe jeden einzelnen Moment mit dem Team genossen“, meint sie. Selbst in den Augenblicken, in denen die Spannung fast ins Unermessliche stieg. Wie die Herren-Mannschaft gegen Frankreich hatte auch das Damen-Quintett im Viertelfinale des Turniers mit einem 0:2-Rückstand gegen Hongkong zu kämpfen. Ein historisch aufgeladenes Spiel, zu nah war noch die Erinnerung an das verloren gegangene Match um Bronze bei den Olympischen Spielen in Tokio im vergangenen Jahr.
Boros erinnert sich an die angespannte Stimmung zu Beginn des Viertelfinales. „Als Ying ihr erstes Spiel verloren hatte, waren alle nur noch nervöser“, weiß sie. Auch Nina Mittelham musste ihr Spiel gegen Zhu Chengzhu mit 1:3 abgeben. „Ich habe versucht, alle zu beruhigen“, sagt Boros. Xiaona Shan brachte die Wende: „Es sind die kleinen Dinge, die entscheiden“, meint die Trainerin. Als das Eis im Spiel gebrochen war, hätten Nina Mittelham und Ying Han stark aufgespielt. „Das hatte nichts mehr mit dem ersten Spiel zu tun“, erklärt Boros. Das deutsche Damen-Team konnte das Trauma von Tokio überwinden, zog ins Halbfinale ein und sicherte sich somit die Bronzemedaille. „Das ist ein tolles Ergebnis für uns“, weiß Boros.
Boros hat die menschliche Seite im Blick
„Sie weiß, wann sie Ruhe ausstrahlen muss, und sie weiß, wann man aufspringen muss“, sagt Sportdirektor Prause. Eine Eigenschaft, die auch Boros‘ Spielerinnen an ihr zu schätzen wissen. „Tamy schaut nicht nur aufs Sportliche, sondern achtet darauf, dass man sich als Mensch wohlfühlt“, sagt Sabine Winter, die in Chengdu selbst am Tisch stand und die Bundestrainerin beim täglichen Training am Deutschen Tischtennis-Zentrum in Düsseldorf erlebt. Die Fähigkeit, auf die Spielerinnen einzugehen, schätze sie sehr. Für Winter war das besonders wichtig aufgrund der speziellen Situation vor Ort in China. Die einzigen Zuschauer saßen im Grunde nur auf der eigenen Bank, daher sei die Rolle von Trainerin und Teamkolleginnen noch einmal wichtiger: „Das Team kann die Spielerinnen dann nochmal besonders pushen“, meint Winter.
In Chengdu haben die Damen gezeigt, dass sie das auch ohne Zuschauerinnen und Zuschauer draufhaben; die Bronzemedaille ist der Beweis dafür. „Ich war mir sicher, dass wir das schaffen können“, sagt Boros über die Siegchancen im kritischen Viertelfinale. Diese Sicherheit hat sich ausgezahlt – und könnte ein Indikator für künftige Erfolge sein. „Wir blicken mit Tamara sehr positiv in die Zukunft“, meint Sportdirektor Richard Prause.