Danzig. Böse Zungen würden behaupten, die Autogrammstunde bei seinem Ausrüster danach war für Timo Boll stressiger als sein EM-Viertelfinalmatch gegen Adrien Mattenet aus Frankreich. Natürlich war dem nicht so. Und dennoch: Mehr und länger in Bedrängnis wurde der Rekordeuropameister von den Unterschriftenjägern gebracht. Dutzende Kinder und Jugendliche wollten ein Bild, eine Unterschrift oder beides. Sowohl das Autogrammeschreiben als auch seinen Halbfinaleinzug meisterte die deutsche Nummer eins mit Bravour – und mit dem bekannten Boll-Lächeln. „Es hat viel Spaß gemacht. Ich hatte die eine oder andere zündende Idee und meinen Gegner relativ gut unter Kontrolle“, erklärte Boll, nachdem er dem Geburtstagskind Mattenet (24 Jahre) kein Geschenk gemacht, sondern eine Lehrstunde erteilt hatte. Mit 4:0 schickte Boll den Franzosen aus der Box.
Boll: "Mattenet ist ein Terrier"
Solch ein klares Resultat hatte kaum jemand erwartet, wohl auch nicht Boll. „Mattenet ist ein Terrier, der nie aufgibt. Er hat einen super Charakter, das haben nicht viele junge Spieler. Davor habe ich Respekt“, adelte Boll seinen Gegner. "Terrier" Mattenet bekam seine Beute Boll aber zu keiner Zeit zu packen. Dafür verbiss sich Boll in die Waden seines Herausforderers. „Er lässt nicht locker, also lasse ich auch nicht locker“, sagte der Weltranglistenvierte. Seine scharfen Zähne zeigte er vor allem zu Beginn der Ballwechsel. „Im Aufschlag-Rückschlag-Bereich war ich heute eine Klasse besser. Das hat es mir relativ einfach gemacht.“ Und auch wenn es in die langen Rallyes ging, hatte Boll gegen den aufstrebenden Franzosen (Weltranglistenposition 26) zumeist das bessere Ende für sich. Der 14-malige Europameister parierte die gewaltigen Rückhand- und Vorhand-Topspins seines Gegenübers nicht nur, sondern entfachte selber ungeheuren beidseitigen Druck und versprühte Spielwitz. Mal ließ Boll den Ball nur ganz kurz abtropfen, als Mattenet vier Meter hinter dem Tisch um sein Leben lief, dann wieder scheuchte er den Franzosen in seine weite Vorhand. Mehrmals dürfte Mattenet in dem Spiel zu der Erkenntnis gelangt sein, dass er Boll noch längst nicht das Wasser reichen kann. Vor allem dann, wenn der Deutsche nahe Bestform agiert. Im vierten Satz lag Boll schon 3:9 hinten und gewann noch mit 12:10. „Die Form ist gut, ich habe mich hier von Tag zu Tag gesteigert. Der Titel ist mein Ziel“, betonte Boll. Dann ging es zur Autogrammstunde.
"Dima" vergibt 5:2-Führung im Entscheidungssatz
Zum Halbfinal-Duell mit seinem Nationalmannschaftskollegen und Freund Dimitrij Ovtcharov kommt es am Sonntag nicht. Ovtcharov, der in den Runden zuvor so dominant aufgetreten war und insgesamt nur drei Sätze abgegeben hatte, unterlag dem Slowenen Bojan Tokic in sieben Sätzen. "An ein Halbfinale gegen Timo denke ich noch lange nicht. Morgen steht erst mal ein schweres Viertelfinale an. Es geht erst einmal darum, überhaupt eine Medaille zu holen“, hatte Ovtcharov am Abend vor dem Viertelfinale gesagt. Er wusste, was ihn erwartet. Tokic spielt für Saarbrücken in der Bundesliga, er gehört zur Düsseldorfer Trainingsgruppe und kennt die deutsche Mannschaft aus dem Effeff. Das ist das eine. Das andere war: Tokic spielte gegen Ovtcharov auf allerhöchstem Niveau, retournierte die Aufschläge Ovtcharovs clever und dies sehr konstant über die volle Distanz. "Es ist fast so, als wäre ich in Danzig geboren, als wäre es meine Stadt, meine Halle, mein Turnier. Ich habe hier so viele knappe Spiele gewonnen“, sagte Tokic. Gegen den Tschechen Dmitrij Prokopcov musste er drei Matchbälle abwehren, eine Runde später schlug er He Zhi Wen (Spanien) nur mit 11:9 im siebten Satz. "Jetzt gegen Dimitrij wurde es nach meiner 3:1-Führung noch einmal eng. Trotzdem habe ich gewonnen. Wunder gibt es einfach immer wieder."
"Wenn ich verloren habe, war es wohl sehr schwer", sagte der Unterlegene mit einem sauren Lächeln. Ovtcharov und die deutschen Anhänger hatten zwischenzeitlich wieder Hoffnung geschöpft. „Dima“ hatte aus dem 1:3-Rückstand einen 3:3-Ausgleich gemacht und sich mit teilweise phantastischen Bällen eine 5:2-Führung im Entscheidungssatz erspielt. „Ich habe hoch geführt, einen Fehlaufschlag gemacht. Das war mein einziger im ganzen Turnier. Ein, zwei Chancen habe ich ausgelassen, dann noch zwei ärgerliche Kantenbälle bekommen. Das ist natürlich extrem bitter, aber das ist Sport“, sagte Ovtcharov.
Bojan Tokic fühlt sich wie Tom Cruise
Wenn Bojan Tokic an das morgige Halbfinalduell mit Timo Boll denkt, dann sieht er sich in einem Hollywood-Blockbuster mit geringen Chancen auf ein gutes Ende. "Gegen Timo Boll, das ist wie bei Tom Cruise: Mission Impossible. Ich bin mit einer Medaille zufrieden, werde es aber trotzdem probieren. Schließlich kann Timo nur verlieren, und ich kann nur gewinnen“, sagte Tokic.
Wie im Film muss sich auch Bastian Steger vorgekommen sein. Im dritten Viertelfinale mit deutscher Beteiligung verlor Steger in sechs Sätzen gegen den Serben Aleksandar Karakasevic. „Kara“, mit dem leichten Bauchansatz, steht auf Cola, Zigaretten und eher weniger anstatt mehr Training, kann aber auf sein unheimliches Gefühl in der linken Hand vertrauen. Vor allem seine Rückhand ist gefürchtet, und mit jener brachte Karakasevic auch Bastian Steger häufig zur Verzweiflung. Steger verlor den ersten Satz, kam dann stark zurück, gewann den zweiten und führte im dritten Satz mit 9:3. Zu dem Zeitpunkt hatte Karakasevic kein Mittel, Steger spielte klasse. Was dann geschah, konnte sich der 30-jährige Deutsche Meister selbst nicht erklären: "Das passiert mir selten, dass ich nach so einer Führung noch verliere. Danach war ich sehr verunsichert. Bis dahin hatte ich das Spiel eigentlich perfekt im Griff. Keine Ahnung, was dann passiert ist", sagte Steger. Er lief in den folgenden Durchgängen meistens einem Rückstand hinterher, musste sich immer wieder herankämpfen. Am Ende verpasste Steger knapp den Entscheidungssatz. "Im Viertelfinale auszuscheiden ist sehr bitter. Mein Ziel war eine Einzelmedaille, und die riesen Chance darauf war da. Jetzt ist es natürlich enttäuschend." Ein Lob gab es für seinen Gegner: "Letztlich muss ich anerkennen, dass Kara sehr gut gespielt. Er ist einfach unberechenbar."
Gefühlsspieler "Kara" ist unberechenbar
Karakasevic, der sich in Danzig in Bestform präsentiert, feierte seinen Halbfinaleinzug wie den Europameistertitel. „Gegen Kara spielen viele nicht so gerne, es ist ein ganz anderes Spiel. Er hat ein schnelles Handgelenk und die Begabung, zu erahnen, wohin der Ball als nächstes kommen wird. Ähnlich wie Jan-Ove Waldner ist er ein begnadeter Spieler. Wenn Gefühlsspieler wie er den Touch kriegen, können sie weit kommen“, sagte Bundestrainer Jörg Roßkopf.
Patrick Baum wiederholt Samsonov-Sieg von Ostrava und glänzt mit eingesprungener Rückhand
Die Geschichte hat sich wiederholt. Ostrava 2010: Herren-Einzel, Viertelfinale: Patrick Baum bezwingt Vladimir Samsonov in sieben Sätzen. Für Baum war es ein Schlüsselspiel auf dem Weg zur Silbermedaille. Heute in Danzig hieß der Gegner wieder Samsonov und wieder hieß der Sieger Patrick Baum. Der 24-Jährige schlug den dreifachen Einzel-Europameister in fünf Sätzen. Ein gutes Omen für Baum, der mit „Vladi“, dem Weltranglistenneunten, das schwerste Viertelfinallos gezogen hatte. Bis auf einen Ausrutscher im dritten Durchgang (1:11) spielte „Patti“ groß auf. Gerade in den längeren Ballwechseln – sonst eine Stärke des Weißrussen – hatte der Deutsche häufig das bessere Ende für sich und zeigte phasenweise absolute Weltklassebälle. Ein Raunen ging durch das Publikum, als Baum beim Stand von 5:6 im fünften Satz mit einem eingesprungenen Rückhand-Topspin punktete. Der Düsseldorfer legte einen Vorhand-Kracher zum 7:6 nach. „Da habe ich mir vorgenommen, das Spiel zuzumachen. Als Vladi ein Time Out genommen hat, habe ich gemerkt, dass er nervös ist“, sagte Baum, der das Spiel so analysierte: „Ich bin gut gestartet und habe wichtige Situationen für mich entschieden. Den zweiten Satz habe ich bei 9:9 noch gewonnen und im vierten ein 7:9 gedreht. Vladi hat dann versucht, mehr zu umlaufen und aggressiver zu spielen, aber wenn wir erst mal im Duell Topspin gegen Topspin sind, komme ich ganz gut an die Bälle.“ Pattis Leistung verdiene sehr großen Respekt, betonte Jörg Roßkopf. „Nicht zuletzt deshalb, weil Vladi sehr gut gegen Linkshänder spielen kann.“ Im Halbfinale trifft Baum auf den Steger-Bezwinger Karakasevic. „In der Bundesliga habe ich 3:1 gewonnen. Aber die Bundesliga ist kaum vergleichbar mit einem EM-Halbfinale. Es wird sehr schwierig“, sagte Baum.
Jörg Roßkopf: „Konnten uns nur eingeschränkt vorbereiten“
„Dima und Basti haben ihre Führungen nicht genutzt. Schade, denn wir hatten hier die Chance, vier Spieler im Halbfinale zu haben“, kommentierte Bundestrainer Jörg Roßkopf die Viertelfinals. Für die beiden Niederlagen sieht Roßkopf weitere Gründe. „Es ist ein anstrengendes Turnier und das in einer Phase, in der wir auch vor der EM viele Spiele gemacht haben. Wir konnten uns nur sehr eingeschränkt auf dieses Turnier vorbereiten. So kann es leichter vorkommen, dass man als Spieler in Drucksituationen die falsche Entscheidung trifft“, sagte Roßkopf.
Herren-Einzel, Viertelfinale
Timo Boll - Adrien Mattenet FRA 4:0 (8, 4, 9, 10)
Dimitrij Ovtcharov - Bojan Tokic SVN 3:4 (-8, 2, -9, -5, 6, 6, -10)
Bastian Steger - Aleksandar Karakasevic SRB 2:4 (-3, 6, -10, -5, 8, -11)
Patrick Baum - Vladimir Samsonov BLR 4:1 (6, 9, -1, 9, 8)
Herren-Einzel, Halbfinale am Sonntag
Timo Boll - Bojan Tokic SVN, 11:40 Uhr
Patrick Baum - Aleksandar Karakasevic SRB, 12:30 Uhr
Finale ab 15 Uhr