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Er ist mit sich im Reinen: Timo Boll nach dem Olympia-Aus gegen Schweden (Foto: Team Deutschland/Max Galys)
Es hat sich angefühlt, als würde die Zeit stehen bleiben. Nach Timos letztem Schlag als Nationalspieler, einem Vorhand-Topspin, der neben den Tisch flog, stand die ganze Halle auf

Wie kann da jetzt Schluss sein? Eine Hommage auf Timo Boll von Friedhard Teuffel

Gastbeitrag von Friedhard Teuffel 07.08.2024

Paris. Es gibt Texte, die sollten nie geschrieben werden. Wie dieser hier. Denn es ist ein Abschiedstext. Und wenn schon, dann doch nicht jetzt, denn bei Olympia in Paris sind die Mannschaftsmedaillen noch gar nicht vergeben, und er hat doch immer eine gewonnen, so lange es diesen Wettbewerb bei Olympia gibt. Wie kann da jetzt Schluss sein?

Eigentlich hatte Timo Boll uns alle gut darauf vorbereitet und schon vor ein paar Monaten angekündigt, dass seine internationale Karriere bei den Olympischen Spielen in Paris endet. Mit 43 hat er auch so viel länger durchgehalten als die meisten anderen. Aber kann man sich auf seinen Abschied wirklich vorbereiten? Timo gehört doch einfach dazu. Zur Nationalmannschaft. Zu allen internationalen Turnieren. Zum Tischtennis. Zum ewigen Duell mit der Übermacht China. Zum Sport insgesamt. Wie er spielt und wer er ist, davon haben wir alle so viele Bilder im Kopf, angefangen von den Videos aus dem holzverkleideten Höchster Hobbykeller, in denen er als Vierjähriger am Ende des Ballwechsels den Schläger mit beiden Händen halten muss, weil er ihm zu schwer geworden ist.

Hier verlässt ein feiner und fairer Mensch die ganz große Bühne als Spieler

Und jetzt ein Abschied? Es hat sich erst einmal angefühlt, als würde die Zeit stehen bleiben. Nach Timos letztem Schlag als Nationalspieler, einem Vorhand-Topspin, der neben den Tisch flog, stand die ganze Halle auf. Und wir können sicher sein, dass vor den Bildschirmen weltweit unzählige Menschen ebenfalls innegehalten haben. Hier hat eben kein Medaillensammler aufgehört, kein Dominator seiner Sportart. Es geht nicht um Rekorde und Zahlen und Titel, und ob es am Ende eine Olympiamedaille mehr oder weniger geworden wäre, hätte auch keinen großen Unterschied gemacht. Warum sich alle erhoben haben, ist, dass hier ein feiner und fairer Mensch die ganz große Bühne als Spieler verlässt.

Seine Tränen zum Abschied in der Halle haben das ebenfalls ausgedrückt. Sie zeigen, was ihm das alles bedeutet – seine Mitspieler, sein Sport, seine Leidenschaft für dieses Spiel. Seine Tränen erinnern auch an einen seiner schönsten Sätze. „Tischtennis ist wie eine große Liebe und die betrügt man nicht.“ Das hat er einmal gesagt, als er zum Doping befragt wurde. Es ist nicht mal vermessen, dass es mit das Schönste ist, was ein Sportler überhaupt sagen kann über das, was er tut. Weil es zeigt, dass es eine Herzenssache ist und Sportler nicht einfach nur ein Beruf. Tischtennisprofi ist nicht das erste Wort, das einem zu Timo Boll einfällt.  

Die Chinesen haben in ihm eine sportliche Herausforderung gefunden und er in China eine persönliche

Gibt es einen Moment in seiner Karriere, der symbolisch für alles steht, in dem sich alles verdichtet? Seine Karriere ist so lang, dass jedem und jeder andere Momente als erstes einfallen. Vielleicht zunächst einmal auch persönliche Begegnungen mit ihm, denn bei aller Introvertiertheit, bei allem Auch-mal-für-sich-sein-Wollen, hat er sich für andere immer Zeit genommen, hat nachgefragt, aufmerksam zugehört und sein Erstaunen mit hochgezogener Augenbraue ausgedrückt. Er hat andere überrascht mit seinem vorsichtigen Humor. Seine Persönlichkeit schillert. Die Chinesen haben in ihm eine sportliche Herausforderung gefunden und er in China eine persönliche. Von China und seinen Menschen hat er andere Seiten von sich herauskitzeln lassen, die neugierige, die aufgeschlossene, die abenteuerlustige.

Sicher gibt es Momente aus seiner Karriere, die vielen auf einmal einfallen. Der zurückgegebene Punkt bei der WM 2005 in Schanghai gegen Liu Guozheng bei knappstem Spielstand. Da waren seine Liebe zum Spiel und der Respekt für den Gegner größer als der Antrieb, unbedingt gewinnen zu wollen. Und es war vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der Timo den Punkt zurückgab, die diese Situation so außergewöhnlich macht. Mit sich im Reinen zu sein, auch in der Niederlage, das gehört zu Timos außergewöhnlichen Talenten, mindestens ebenso wie seine Antizipation, seine Fähigkeit, motorisch unglaublich schnell zu lernen, sein Spiel und seine Technik immer weiter entwickeln zu können.

Man kann auch als bodenständiger, anständiger Mensch die Nummer eins in einem Weltsport werden

Die Freude über die Olympia-Mannschaftsmedaille in Peking 2008 ragt ebenfalls heraus. Weil Timo eben auch ein Mannschaftsspieler ist. Und er sich mit anderen so wunderbar freuen kann. Doch zu den symbolischen Momenten seiner Karriere gehört im Grunde auch dies: jeder einzelne wertschätzende Blick, mit dem er nach einem Spiel, egal ob gewonnen oder verloren, seinen Gegner anschaut.

Daraus ist schon zu Spielzeiten Timos Vermächtnis geworden: Am Ende kommen nicht nur die Schlitzohren durch, die den Gegner anbrüllen, ihn mit Trash-Talk überziehen und das taktische Foul für eine Meisterleistung halten. Timo hat uns allen gezeigt: Ja, man kann auch als bodenständiger, anständiger Mensch die Nummer eins in einem Weltsport werden.

Ihn dann wieder regelmäßig in der Halle zu treffen, davon würden nicht nur die Spieler etwas haben, sondern wir alle

Dieses Vermächtnis gehört zu den tröstenden Begleitumständen seines Abschieds. Es gibt zum Glück noch mehr: dass er uns noch ein Jahr in der Bundesliga mit Borussia Düsseldorf schenkt. Oder dass er danach nicht aus der Welt sein muss, was zwei Anwesende in der Halle auch gezeigt haben: Dirk Nowitzki und Jörgen Persson. Nowitzki ist Sportler geblieben, ohne in der NBA zu spielen. Er feiert nun seine Liebe zum Sport, in dem er mal hierhin geht und mal dahin, bei den Special Olympics World Games bei der Eröffnungsfeier die Flamme trägt oder eben mit den Sportlern Zeit verbringt, die seine Leidenschaft teilen. Dazu gehört auch Timo. Es ist kein Zufall, dass die beiden eng befreundet sind und zu dem sehr kleinen Kreis an Vorbildern gehören, die die Fahne der deutschen Olympiamannschaft bei der Eröffnungsfeier tragen durften.

Jörgen Persson hat als Trainer der schwedischen Nationalmannschaft weitergemacht. Einen Bundestrainer gibt es schon und mit Jörg Roßkopf dazu einen, der seine Sportart ebenfalls geprägt hat. Aber warum sollte Timo nicht all seinen Spielverstand, sein Spielwissen später als Coach bei großen Turnieren einsetzen? Spielern aus seiner Schatzkiste kleine kostbare Tipps schenken? Ihn dann wieder regelmäßig in der Halle zu treffen, davon würden nicht nur die Spieler etwas haben, sondern wir alle.

Friedhard Teuffel

Der Autor ist Direktor des Landessportbunds Berlin und hat gemeinsam mit Timo Boll das Buch „Timo Boll: Mein China. Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“ geschrieben.

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