Frankfurt/Main. „Tischtennis ist jetzt unser Fulltime-Job“, sagt Helen Wilde und lacht. Vor fünf Jahren haben sie und ihr Mann Ian mit dem schnellsten Rückschlagspiel der Welt begonnen. Er war jahrzehntelang leidenschaftlicher Radfahrer, sie spielte Netball, ein dem Basketball ähnliches Mannschaftsspiel. Sport haben die beiden Engländer ihr Leben lang intensiv neben der Arbeit betrieben. Doch als sie älter wurden, suchten sie einen gemeinsamen Partnersport, einen Sport, den sie beide gleichermaßen gut zusammen ausüben konnten. Sie gingen zum Tischtennis. Das war vor fünf Jahren.
Nach der Pandemie sind sie richtig eingestiegen. Ihr Auto steht inzwischen vor der Garage. Es musste dem Tischtennistisch weichen. Sie haben einen Roboter gekauft, die Beleuchtung verstärkt und filmen sich für Videoanalysen. Eine Stunde am Tag trainieren sie in ihrer Garage. „Die einzige Ausnahme vom Training ist, wenn wir verletzt sind“, sagt der 63-jährige Ian. Abends schauen sie sich die Übertragungen der weltweiten WTT-Veranstaltungen auf YouTube an. Und kennen alle Stars in- und auswendig. Sie bedauern das Karriereende von Timo Boll und Ma Long, sehen gerne die kreativen Ideen von Truls Möregardh am Tisch und mögen die Spielweise von Simon Gauzy und Lin Shidong.
Über das WTT Champions Frankfurt: „Die Atmosphäre ist atemberaubend. Die Spiele sind hochklassig“
Beim WTT Champions Frankfurt sind sie zum ersten Mal live vor Ort bei einem der Weltklasse-Events, die sie sonst nur vom Streaming kennen. „Die Stimmung ist atemberaubend. Die Spiele sind hochklassig. Die Lichtshow ist beeindruckend“, beschreibt Ian. „Es werden nicht nur zwei Weltklasse-Akteure und ihr Match auf dem Centercourt gezeigt. Das Spektakel drumherum macht die Spiele hier zu einem echten Event.“
Die Wildes hatten im Vorfeld überlegt, ob sie zum Champions-Turnier nach Montpellier oder nach Frankfurt reisen sollten. Wegen der besseren Erreichbarkeit entschieden sie sich für die Main-Metropole. Es ist ihr erster Aufenthalt in Deutschland. Die meiste Zeit werden sie in der Süwag Energie ARENA verbringen.
Von Sonntagnachmittag bis zum letzten Spiel der Abendsession am Mittwoch werden sie in der Arena sein. Ein bisschen Sightseeing darf trotzdem sein: Am Donnerstag vor der Abreise sind sie mit einem deutschen Freund verabredet. Er wird ihnen seine Heimatstadt Mainz zeigen. Auch ihn haben sie beim Tischtennis im Verein kennengelernt, als er während seines Urlaubs als Trainingsgast dort war.
"Table Tennis for all, for life' - das Motto der ITTF passt perfekt zu uns"
Helen und Ian spielen nicht nur in ihrer Garage. Dreimal in der Woche fahren sie zu zwei Vereinen in Nairn und Elgin, etwa 20 Kilometer von ihrem Wohnort Forres bei Inverness entfernt. In den schottischen Highlands, wo sie inzwischen leben, sind Tischtennis-Vereine rar.
Dreimal pro Jahr tragen deshalb jeweils zehn Vereine in der Region ihre Ligaspiele der „Highland Table Tennis League“ en bloc am selben Ort an jeweils einem Sonntag im November, Januar und März aus. Seit dem vergangenen Jahr spielen die Wildes dort in gemischten Teams im Einzel und Doppel mit. Helen hat für ihre Mannschaft ein Logo entworfen und die Trikots ausgesucht. „Wir sind zwar keine Profis, aber wir sehen jetzt so aus“, sagt sie schmunzelnd.
Ihr Trainer in Elgin ist der ehemalige walisische Nationalspieler und Commonwealth-Games-Teilnehmer Stephen Gertsen, von dem sie viel gelernt haben. Er hat großen Anteil daran, bei ihnen das Feuer für den Tischtennissport zu entfachen. "Table Tennis for all, for life' - das Motto der ITTF passt perfekt zu uns", findet Helen und erklärt: "Da spielt ein Zehnjähriger gegen eine 60-Jährige und es kann trotz des Altersunterschieds ein richtig gutes Match werden. Das gibt es in keiner anderen Sportart.“ Auch ein Rollstuhlfahrer ist in Elgin mittendrin. „Tischtennis ist ein wirklich inklusiver Sport, an dem jeder Spaß haben kann“, ist die 61-Jährige überzeugt.
Sport im Verein hat auch ihr Sozialleben bereichert
Ians Karriere bei der Plattenfirma BMG Records im Bereich Marketing und Vertrieb endete mit dem Siegeszug der Streaming-Portale. Noch heute hängen im Haus der Wildes goldene Schallplatten von Whitney Houston and Annie Lennox, Pop-Ikonen der 1980er- und 1990er-Jahre. Weil Ian und Hellen ein naturnäheres Leben bevorzugten, zog das Paar von England nach Schottland. Ian stieg bei einem Krankentransport-Unternehmen als Fahrer ein. Helen war früher Bankangestellte und arbeitete danach in der Verwaltung eines Pflegeheims. Inzwischen sind beide im Ruhestand.
Der Sport im Verein bereichert auch das Sozialleben. So ist ein Trainingsabend im Verein längst auch ein Treffen mit Freunden. „Früher kannten wir nur Radsportler und Netball-Spieler. Die Tischtennis-Leute haben unseren Freundeskreis erweitert“, erzählt Ian. In den Vereinen herrscht eine herzliche Willkommenskultur und Offenheit gegenüber Trainingsgästen. Helen und Ian sind ihrerseits ein sehr offenes, geselliges Paar und genießen die Gemeinschaft in ihren Klubs.
Ihre Begeisterung für Tischtennis ist ansteckend, die Intensität, mit der sie es betreiben, erstaunlich
Beide hatten früher nie eine Rückschlagsportart betrieben. „Wir wünschen uns oft, wir hätten früher mit Tischtennis begonnen“, sagt Ian. Die Begeisterung, mit der die beiden ihren neuen Sport betreiben, ist ansteckend. Die Intensität und die Zeit, die sie dafür aufwenden, sind erstaunlich.
Zu spät hatten sie von den Senioren-Weltmeisterschaften in Rom im Sommer gehört. Sonst hätten sie daran teilgenommen. Sie freuten sich zu hören, dass im Wechsel mit Senioren-WMs kontinentale Titelkämpfe in Europa für die Altersklassen der Über-40-Jährigen stattfinden. Die nächste EM ist 2025 im serbischen Novi Sad. Eine Qualifikationsveranstaltung gibt es nicht. Alle, die die Altersschwelle erreicht haben, können teilnehmen. Vielleicht sind im kommenden Jahr auch die Wildes am Start.
Zwei Trainingslager im Ausland absolviert, das dritte ist schon geplant
Ihr Ehrgeiz, sich in ihrem Sport immer weiter zu verbessern, kommt der Einstellung von Tischtennis-Profis nahe. „Wir haben auch unsere anderen Sportarten ambitioniert betrieben. Wir haben den Anspruch, uns immer weiter zu verbessern“, sagt Helen. „Im Radsport hast du mehr trainiert, bist weitere Strecken gefahren und wurdest besser“, fügt Ian hinzu. „Tischtennis ist viel komplexer. Da musst du mehr tun. Es ist technisch und mental eine enorme Herausforderung.“
Zwei Lehrgänge im Ausland haben sie schon absolviert, einen in Dänemark, wo ein Trainer für acht Spieler zuständig war, und einen zweiten in Portugal. Dort hatten sie einen Privattrainer für vier Stunden am Tag, fünf Tage lang. Nächstes Jahr geht es ins Trainingszentrum des französischen Spitzenklubs Hennebont. „Wir recherchieren im Internet und lesen die Bewertungen. Dann entscheiden wir, wohin es als Nächstes geht“, erklärt Ian die Auswahl der Amateur-Trainingslager. Manchmal mache ein einziger Tipp schon einen riesigen Unterschied. Das ist einer der Gründe, warum sie sich von verschiedenen Coaches Anregungen holen.
Durch ihre langjährige Erfahrung im Sport wissen Helen und Ian, dass es mit Tischtennistraining allein nicht getan ist. Neben der täglichen Tischtennis-Einheit in Garage oder Verein besuchen sie dreimal pro Woche ein Fitnessstudio. Dort stehen einmal pro Woche Krafttraining und zweimal Stabilisation auf dem Programm. „Wir wollen nicht zu den Leuten gehören, die irgendwann nicht mehr ihre Koffer über Kopf ins Gepäckfach heben können“, sagt Helen entschlossen. Beim WTT Champions Frankfurt holen sie sich weitere Anregungen. Damit sie sich im Tischtennis weiter verbessern, auch im hohen Alter noch fit und gesund sind und so ihrem neuen Sport noch lange treu bleiben können. "For life", getreu dem ITTF-Motto also, ein Leben lang.
WTT Champions Frankfurt: Gut zu wissen