Moskau. Das zweitschönste Abschiedsgeschenk für Bundestrainer Richard Prause ist es jetzt schon. Das schönste könnte es morgen noch werden. Deutschlands Tischtennis-Herren sind nach einem 3:1-Sieg gegen Südkorea in einem mitreißenden Halbfinale ins Endspiel der 50. Mannschaftsweltmeisterschaften in Moskau eingezogen. Der Europameister trifft dort morgen ab 14 Uhr deutscher Zeit auf den Olympiasieger und WM-Titelverteidiger China. Zweimal hat die Herren-Auswahl des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) bisher Team-Silber bei Weltmeisterschaften gewinnen können, 1969 und 2004. Eine Goldmedaille gab es noch nie. „Wir haben heute dominiert“, befand Richard Prause nach der Partie gegen Südkorea. „Wir haben gut gespielt, gut gekämpft und in den wichtigen Momenten das Glück des Tüchtigen gehabt. Aber das hat eben auch nur der Tüchtige.“
Timo Boll sorgte für die erhoffte 1:0-Führung. Der zehnfache Europameister vom Champions-League-Sieger Borussia Düsseldorf setzte sich zum Auftakt gegen Ryu Seung Min durch. Boll gelang es, die langen Vorhand-Topspin-Duelle zu vermeiden, die der Penholderspieler mit den schnellen Beinen so liebt. Er ließ den Olympiasieger von Athen 2004 nur selten zur Entfaltung kommen und gewann in drei Sätzen.
Ovtcharov erhöht auf 2:0
Dimitrij Ovtcharov (Charleroi, Belgien) lieferte gegen Oh Sang Eun eine spielerische und kämpferische Meisterleistung ab. Gegen den WM-Dritten von Shanghai 2005 nutzte er seine eigene Aufschlagstärke, spielte vor allem im zweiten und dritten Satz druckvolle Topspins von beiden Seiten, die der 1,86 Meter große Südkoreaner häufig nur parieren konnte, ohne dem 21-jährigen Deutschen selbst sein Spiel aufzuzwingen. Zu Beginn von Durchgang drei ergriff die Nummer 13 der Welt verstärkt die Initiative, setzte seinerseits Ovtcharov unter Druck und ging mit 4:0 in Führung. Ovtcharov schloss auf, bei 3:4 nahm Südkoreas Herren-Nationaltrainer Kim Taek Soo eine Auszeit, um seinen Schützling neu einzustellen. In der Folge gelang Oh die 10:7-Führung. Die vorwiegend russischen Fans skandierten „Di-ma, Di-ma“, den Kosenamen des gebürtigen Ukrainers Ovtcharov, der im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern aus Kiew nach Deutschland ausgewandert war. Es half bedingt: Vier Satzbälle seines Kontrahenten wehrte er ab, den fünften verwandelte Oh zum 13:11.
Der entscheidende Satz: Dimitrij Ovtcharov ging schnell in Führung, wurde dann ein wenig passiv und konnte den Vier-Punkte-Vorsprung nicht halten. Auszeit Deutschland beim Stand von 5:4. „Ich habe trotzdem immer an meine Chance geglaubt“, erzählte Ovtcharov später. „Man hätte auch locker mit 7:11 verlieren können, wenn man so eine Führung verspielt.“ Beide Spieler punkteten von dort an abwechselnd, bei jedem Punkt sprangen die jeweiligen Teamkollegen jubelnd auf. 8:8: Ovtcharovs diagonaler Rückhand-Topspin saß. Den nächsten Ball verzog Oh mit einem diagonalen Vorhand-Topspin über den Tisch. Matchball bei Aufschlag Oh Sang Eun. Ovtcharov zog diesen mit seiner Rückhand an, der Südkoreaner blockte ins Netz: 2:0 für Deutschland. „Dimitrij war heute wieder unser großer Fighter“, sagte Bundestrainer Richard Prause. „Das Match gegen Oh war ein Spiel auf Messers Schneide. Durch seinen Sieg hat er das Tor zum Finale für uns weit aufgestoßen. Das verdient größten Respekt und Anerkennung.“ Dimitrij Ovtcharov war mehr als erleichtert nach seinem Erfolg: „Nach meinem Sieg ist die komplette Anspannung von mir abgefallen. Ich wusste, dass damit das Spiel für uns damit zu 80, 90 Prozent entschieden war“, sagte er.
Schwere Aufgabe für Christian Süß gegen Südkoreas Besten
Christian Süß hatte an Position drei mit Joo Se Hyuk die für ihn denkbar schwerste Aufgabe dieses Abends. Noch nie in den vorangegangenen vier Begegnungen der beiden hatte der 24 Jahre alte amtierende Deutsche Einzel-Meister gegen Joo gewonnen. Der Weltranglistenneunte ist der beste Abwehrspieler der Welt mit mächtigen Angriffsschlägen, WM-Zweiter von 2003 und von seinem Team in Moskau derjenige, der sich im Turnierverlauf zuvor am stärksten präsentiert hatte. Süß kämpfte, zwang Joo im ersten Durchgang in die Verlängerung, konnte dort aber nicht mehr als zwei Satzbälle abwehren. In Satz zwei war der Faden des Düsseldorfers komplett gerissen. Ab Mitte des dritten Satzes sich der Südkoreaner erneut ab und markierte letztlich sicher mit 11:5 den Anschlusspunkt für sein Team. Zu diesem Zeitpunkt hatte die chinesische Herrenmannschaft die Halle bereits wieder verlassen, war genug gewarnt für das morgige Endspiel. „Christian hatte hier eine sehr schwierige Aufgabe. Er spielt eben besser gegen Angriff als gegen Abwehr“, wusste Coach Prause, „aber auch er hatte seine Chancen im ersten Satz.“
Boll: "Mein mit Abstand mein bestes Spiel bei diesem Turnier"
Timo Boll war im Anschluss auch gegen Oh Sang Eun voll auf der Höhe. Der Weltranglistendritte aus Hessen brillierte mit variablen Topspins, guter Spielübersicht und Top-Beinarbeit. Der Südkoreaner war in den ersten beiden Durchgängen fast komplett auf verlorenem Posten. Im dritten Satz wurde es noch einmal spannend, beide punkteten im Wechsel. Mit 10:7 konnte sich Timo Boll absetzten. Seinen zweiten Matchball zum 11:8 verwandelte der Deutsche. Sein Team hatte das Finale erreicht. „Ich habe heute mit Abstand mein bestes Spiel bei diesem Turnier gemacht. Ich habe mich sehr gut bewegt, mit Vorhand und Rückhand mit guten Bällen gepunktet und auch viele extreme Bälle getroffen“, freute sich der Matchwinner mit zwei Einzelsiegen. „Vorher war’s hier manchmal mehr Krampf als Vergnügen. Ich hatte das Gefühl, ich hätte mich am Tisch regelrecht verlaufen. Heute habe ich viel lockerer durchgezogen.“ Auch Timo Bolls neues Selbstbewusstsein in Moskau lässt für das Finale hoffen. „Ich habe jetzt viel mehr Selbstvertrauen als vorher, habe endlich mal die knappen Sätze gewonnen, die ich vorher verloren habe.“
Bundestrainer Richard Prause war voll des Lobes für seinen Schützling. „Timo hat nur wenige vermeidbare Fehler gemacht. Er hat sich hervorragend bewegt, war sehr leichtfüßig und bei einigen Bällen hatte man das Gefühl, er hätte einen Magnet im Schläger.“ Der Leitwolf des Teams sei er einmal mehr gewesen. „Sein Sieg über Ryu hat der Mannschaft die nötige Sicherheit gegeben.“
Gegen China: "Wir glauben fest an uns"
Schon jetzt ist es das erfolgreichste Auftreten einer gesamten Delegation des Deutschen Tischtennis-Bundes bei Weltmeisterschaften. Nur einmal hatten sowohl DTTB-Damen als auch -Herren Edelmetall bei denselben Welttitelkämpfen gewonnen: zweimal Bronze in Manchester 1997.
„Ich hoffe, es geht morgen auch etwas gegen China“, so Timo Boll. „Die Chinesen sind die haushohen Favoriten. Aber wir werden bissig ins Spiel gehen und nicht aufgeben.“ Das versprach auch sein Teamkollege. „Wir wollen morgen das Spiel durch einen großen Kampf knapp gestalten“, sagte Dimitrij Ovtcharov. „Wir wollen nicht mit 0:3 untergehen wie alle anderen hier.“ Bei der Finalniederlage in Peking bei den Olympischen Spielen 2008 gegen Gastgeber China sei die Mannschaft schon mit dem Finaleinzug zufrieden gewesen. „Hier erwarte ich mehr von unserem Spiel. Vielleicht verlieren wir ja 0:3 oder 1:3. Aber vielleicht gewinnen wir auch“, so der Mannschaftseuropameister. „Wichtig ist, dass wir fest an uns glauben.“
Championship Division, Herren
Halbfinale
Deutschland - Südkorea 3:1
Timo Boll - Ryu Seung Min 3:0 (10,6,9)
Dimitrij Ovtcharov - Oh Sang Eun 3:2 (-4,4,7,-11,8)
Christian Süß - Joo Se Hyuk 0:3 (-12,-2,-5)
Boll - Oh 3:0 (3,6,8)
Team Südkorea: Joo Se Hyuk (Weltranglistenposition: 9, größter Einzelerfolg: WM-Zweiter 2003 in Paris), Oh Sang Eun (13, WM-Dritter 2005 in Shanghai), Ryu Seung Min (17, Olympiasieger 2004 in Athen), Trainer: Kim Taek Soo
Bilanzen
Boll - Ryu 8:1 (einzige Niederlage im WM-Viertelfinale 2007 in Zagreb)
Ovtcharov - Oh 2:1 (beide Siege bei den World Team Cups 2007 und 2009)
Süß - Joo 0:4
Boll - Oh 8:6 (schmerzhafteste Niederlage beim Achtelfinale der Olympischen Spiele 2008 in Peking)
Ovtcharov - Ryu 2:4 (letzter Sieg bei den Korea Open 2009)
China - Japan 3:0
Ma Lin - Kaii Yoshida 3:1 (6,-9,8,2)
Ma Long - Jun Mizutani 3:0 (6,9,8)
Zhang Jike - Seiya Kishikawa 3:1 (8,-9,3,8)
Finale am Sonntag
China - Deutschland, 14 Uhr deutscher Zeit
Das deutsche Herren-Team in Moskau
Timo Boll (Borussia Düsseldorf), 29 Jahre, Weltrangliste: 3
WM-Teilnahmen: 1997, 1999, 2000, 2001, 2003, 2004, 2005, 2006, 2007
Dimitrij Ovtcharov (Royal Villette Charleroi/Belgien), 21 Jahre, Weltrangliste: 15
WM-Teilnahmen (Herren): 2007, 2008, 2009
Christian Süß (Borussia Düsseldorf), 24 Jahre, Weltrangliste: 24
WM-Teilnahmen: 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009
Bastian Steger (TTC Frickenhausen), 29 Jahre, Weltrangliste: 25
WM-Teilnahmen: 2003, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009
Patrick Baum (TTC Zugbrücke Grenzau), 22 Jahre, Weltrangliste: 34
WM-Teilnahmen (Herren): 2007, 2008, 2009
Betreuer: Dirk Schimmelpfennig (Sportdirektor), Richard Prause (Bundestrainer), Jörg Roßkopf (Assistenztrainer), Dr. Sabine Arentz (Mannschaftsärztin, Sportmedizinisches Institut in Frankfurt/Main), Birgit Schmidt (Physiotherapeutin, Olympiastützpunkt Hessen in Frankfurt/Main), Dr. Thorsten Weidig (Sportpsychologe, Uni Bochum)