Detmold. Kommissar Hofmann hatte schon viele Winter erlebt. Er hatte alles gesehen, was man sich nur vorstellen kann. Nichts Menschliches war ihm fremd. Der hochdekorierte Kommissar wusste immer einen Rat und gab sein Wissen auch an jüngere Beamte weiter. Seine Aufklärungsquote war phänomenal. Schon häufig musste er Vorträge über seine Arbeit halten, was ihm nicht ganz so behagte wie ein ordentlicher Mord oder eine Vermisstensuche. Die heimliche Leidenschaft des Kommissars galt aber etwas ganz anderem: dem Tischtennis. In der Kreisliga Nord, seiner Heimatstadt Detmold, machte er keine ganz so elegante Figur wie im Revier der Polizeiwache Detmold-Lippe. Das störte ihn nicht. Mit seiner zwei zu 15 Bilanz hatte er in diesem Jahr gerade einmal 17 TTR-Punkte eingebüßt. So etwas beunruhigte den Kommissar nicht. Er war ein rationaler Mensch und ließ sich nur selten aus der Reserve locken. Schon als Kind war bei ihm eine gewisse Emotionslosigkeit diagnostiziert worden. Er selbst nannte es Beherrschtheit. Lediglich ein einziges Mal hatte er alles um sich herum vergessen, und das war, als Jörg Roßkopf 1989 im Doppel mit Steffen Fetzner Weltmeister wurde. Sehnlichst hatte sich damals ein Autogramm von Roßkopf gewünscht. Das hatte leider nicht geklappt. Zu viel Trubel.
Doch die nun folgende Geschichte änderte das Leben des Kommissars schlagartig. Alles begann mit einem Anruf an Heiligabend:
„Spreche ich da mit Kommissar Hofmann?“, fragte eine aufgeregte, aber klare verständliche Stimme. „Ja, der bin ich“, antwortete der nach einer ordentlichen Portion Schweinelende und zwei Glas Rotwein bereits in einer Art Wachkoma befindliche Kommissar. „Sie müssen sofort rüber kommen zu uns. Wir sind die Nachbarn aus der 12. Es ist etwas sehr Merkwürdiges passiert, was wir uns nicht erklären können.“ „Also hören Sie mal", entgegnete Hofmann, "nur weil ich alleine lebe, heißt das nicht, dass ich an Heiligabend nicht auch meine Traditionen pflege. Wenn etwas vorgefallen ist, rufen Sie bitte die 110 und nicht ihren Nachbarn. Außerdem habe ich getrunken.“ Hofmann war vom Wachkoma in einen Erregungszustand gekommen. Eigentlich wollte er sich heute Abend die Highlights des WTT Champions in Frankfurt anschauen, aber jetzt war seine irgendwie trotzdem Neugierde geweckt. Ohne, dass weitere Überzeugung nötig war, versprach er dem Anrufer vorbeizuschauen.
Als sich der Kommissar der Veranda des Hauses Nummer 12 näherte, winkte ihm ein kleiner Mann bereits zu. „Hier drüben! Das müssen Sie sich ansehen!“, rief der Nachbar aufgeregt. Neben ihm standen seine Frau und die beiden Kinder, die Hofmann schon häufig mit Verachtung vor dem Haus Fußball hatte spielen sehen. 'Tischtennis sollte die Jugend spielen', dachte er und betrat nun das Haus.
Innen war alles festlich geschmückt. Ein Weihnachtsbaum in gold und rot stand in der Ecke des Wohnzimmers. Hofmann konnte auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches feststellen. Die Mutter nahm die beiden Kinder und ging in den ersten Stock. Der kleine Mann sah ihn erwartungsvoll an und der Kommissar spürte, obwohl er nicht sehr empathisch war, dass er etwas sagen musste. „Nun“, begann er zögerlich, „was ist denn genau vorgefallen?“ „Es ist ganz unheimlich“, flüsterte der Nachbar geradezu verschwörerisch, „unterm Baum sind Geschenke.“ Der Kommissar schaute irritiert. „Hat das an Heiligabend nicht seine Richtigkeit?“, fragte er vorsichtig und betrachtete die üppigen Gaben unter dem Weihnachtsbaum. „Nicht, wenn man sie nicht selbst dorthin gelegt hat. Sie lagen plötzlich dort. Einfach so. Uns völlig fremde Geschenke. Wie wurde das bewerkstelligt? Wir hatten alle Türen geschlossen. Es ereignete sich kurz nach unserem Essen.“ Hofmann kratzte sich an der Nase. „Sind sie betrunken?“, fragte er den Nachbarn frei heraus. „Natürlich nicht“, antwortete dieser, „ich trinke nie.“
Nun war der Kommissar in der Tat sprachlos. So einen Fall hatte er noch nie erlebt. Schnell war seine Spürnase geweckt. „Was ist das da vor dem Kamin?“, fragte er und deutete auf einen Rußfleck auf dem Teppich vor dem Kamin. „Ich weiß es nicht. Der ist uns noch nicht aufgefallen.“ Hofmann sah sich weiter um. „Und dort? Dort ist ein Glas Milch und ein angebissener Keks. Was hat das zu bedeuten?“, forschte der Kommissar weiter nach. „Ich habe keinen blassen Schimmer“, erwiderte der Nachbar nun sichtlich verstört, „vielleicht hat sich der Einbrecher eine Pause gegönnt, bevor er ins Haus der nächsten unschuldigen Familie einbricht und seine Geschenke unter den Baum legt. Einfach schrecklich.“
Der Kommissar machte sich ein paar Notizen und befahl dann in fast schon gebieterischem Ton: „Die Kinder sollen runterkommen und auch Ihre Frau. Sie alle sollen die Geschenke öffnen und schauen, was drinnen ist.“
Gesagt, getan. Zunächst zaghaft, dann immer mutiger, wurde ein Geschenk nach dem anderen geöffnet. Das Merkwürdige war, dass jedes Geschenk perfekt war. Ein jeder hatte genau das bekommen, was er sich im tiefsten Inneren gewünscht hatte. Hofmann war ob des Anblicks der glücklichen Familie irritiert. Er schaute noch einmal auf seine Mitschriften, besah den Fleck, roch an der Milch. Er kratzte sich an der Nase. Er nahm den Vater zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr: „Alle Indizien sprechen dafür, dass hier", er wagte es kaum auszusprechen, "dass hier der Weihnachtsmann aktiv war.“ Jetzt fragte der Kommissar den Nachbarn: „Haben Sie etwas getrunken?“ „Ja, erwiderte er, das heißt: nein. Nicht so viel jedenfalls, wie Sie hier versuchen anzudeuten."
„Da ist noch ein letztes Geschenk übrig“, riefen die Kinder plötzlich und unterbrachen das Getuschel. „ein ganz kleines Geschenk. Für Sie, Herr Kommissar.“ Die Kinder überreichten Hofmann einen kleinen Umschlag auf dem sein Name stand. Er öffnete den Umschlag. Was er darin sah, verschlug ihm fast den Atem und er musste sich setzen. „Alles okay bei Ihnen, Herr Kommissar? Vielleicht bleiben Sie einfach heute Abend bei uns und feiern mit uns. Hier, nehmen Sie doch ein Glas hiervon. Und wir haben auch noch Plätzchen da“, kümmerte sich der Nachbar rührend. „Danke, das Angebot nehme ich gerne an.“ Der Kommissar schüttelte sich, trank einen Schluck Wasser und aß ein Plätzchen. Dann murmelte er etwas von wegen „kann doch nicht sein“ und „Weihnachtsmann.“ Die Familie beobachtete ihn gespannt. Dann zog er etwas aus dem Umschlag. Es war ein Autogramm von Jörg Roßkopf mit einer kleinen Widmung aus dem Jahr 1989. „Es war der Weihnachtsmann!“, rief der Kommissar nun laut in den Raum. Der Fall ist gelöst.“ Die Familie applaudierte und widmete sich wieder ihren Geschenken. Schon komisch, was für eine Freude so ein ungebetener Besuch manchmal machen kann.