Rotterdam. Mit 1:4 war Wu Jiaduo in Zagreb unterlegen. Guo Yue gewann am Ende sogar den Titel bei den Einzel-Weltmeisterschaften vor vier Jahren. Diesmal wollte Wu es spannender machen. Von einem Sieg sprach die realistische Europameisterin von 2009 nicht, aber davon, dass sie erst einmal zwei Sätze gewinnen und dann weitersehen wolle. Wer in der Zukunft besser spielen will, muss erst einmal Fehler der Vergangenheit abstellen. Wichtiges Mittel der Wahl dazu ist die Videoanalyse. Drei Festplatten hat Bundestrainer Jörg Bitzigeio im Gepäck, zwei Mal 500 Gigabyte, einmal ein Terabyte. Insgesamt macht das Platz für eine Datenmenge von 2.000.000.000.000 Byte, für den, der viele Nullen mag.
Bitzigeios Reservoir an Wettkampfvideos ist so umfangreich wie wohl kaum ein anderes in Europa. Fast keine Dame, die man auch nur halbwegs als Spielerin von Format bezeichnen könnte, fehlt in seiner Sammlung. Und die aktualisiert er ständig, denn auch die Athletinnen entwickeln sich und ihre Spieltechniken weiter. An den Qualifikationstagen zum Beispiel waren er sowie seine Bundestrainerteam-Kollegen Eva Jeler und Zhu Xiaoyong in Sachen Update an den 36 Tischen in der WM-Haupt- und der -Nebenhalle unterwegs und haben Partien möglicher aktueller und zukünftiger Konkurrentinnen der deutschen Damen aufgenommen.
Internationaler Austausch der eigentlichen Konkurrenten
Liegt den Deutschen ausnahmsweise die Videostudie einer Spielerin nicht vor, ist Kroatiens Nationaltrainer Neven Cegnar Bitzigeios erster Ansprechpartner. Seit Jahren gibt es einen regen Austausch zwischen den beiden akribischen europäischen Trainergrößen im Damen-Tischtennis. Außenstehende werden sich wundern: Auch mit vielen anderen Coachkollegen gibt es enge Kooperationen. Etwa mit den Chinesen, Japanern und immer stärker auch den Südkoreanern. Shi Zhihao, der chinesische Damen-Cheftrainer mit deutscher Bundesliga-Erfahrung und den dazu passenden Sprachkenntnissen, fördert die DTTB-Damen und ihren Trainer schon seit geraumer Zeit. Ausgewählte Spielerinnen dürfen an den Lehrgängen der B-Nationalmannschaft teilnehmen. Deutschlands Nachwuchs fährt ebenfalls mindestens einmal jährlich nach China. So funktioniert die Entwicklungshilfe für Europa im Tischtennis. „Es soll ruhig spannend und knapp werden. Aber am Ende muss die Rote Armee gewinnen“, zitiert Jörg Bitzigeio Shi Zhihao. Zu dominant sind Chinas Damen in der Welt, daher müssen Gegner aufgebaut werden, um das zweistellige Millionenpublikum bei Laune zu halten. Schlagen sollen die Aufbaugegner das Team aus dem Reich der Mitte am Ende aber nicht. „Diese Gefahr besteht zumindest in näherer Zukunft nicht“, so Jörg Bitzigeio. „Dafür ist der Abstand zu groß.“
Japan wäre da schon besser erreichbar. Wie die Deutschen gewannen die Japanerinnen bei den Mannschaftsweltmeisterschaften in Moskau im vergangenen Jahr Bronze. Während der DTTB-Auswahl damit aber eine Sensation gelang, war es für die Japanerinnen Edelmetall mit Ansage. Nicht umsonst sind gleich drei von ihnen unter den Top 15 der Weltrangliste zu finden. Doch auch sie zeigen Schwäche. 2009 in Yokohama wurden sie häufiger, als ihnen bei der Heim-WM lieb war, von Europäerinnen besiegt. Nach mehreren gemeinsamen Trainingslagern mit Deutschlands Damen, unter anderem bei der diesjährigen WM-Vorbereitung in Düsseldorf, spielen sie inzwischen stabiler gegen den alten Kontinent. Jörg Bitzigeio beunruhigt das nicht: „Der positive Effekt, den ein gemeinsames Training für uns hat, ist so groß, dass wir es verschmerzen können, wenn sie dafür gegen ein paar Europäerinnen gewinnen.“ Sein Trainertraum wäre, in Asien für einige Wochen zu hospitieren. „Dafür fehlt leider die Zeit“, bedauert der 34-jährige Diplom-Sportwissenschaftler und A-Lizenz-Trainer. „Wenn du mit deinen eigenen Spielerinnen beim Lehrgang bist, bist du dort voll eingebunden. Aber auch so frage ich immer, wenn sich die Gelegenheit bietet, den anderen Trainern Löcher in den Bauch, um etwas über andere Sichtweisen zu erfahren und Probleme mit anderen Mitteln zu lösen.“
„Chinesen nehmen uns stärker wahr als früher“
Ein bisschen stolz darf er sein auf die Fortschritte, die er mit seinem Team, der Trainingsgruppe am Deutschen Tischtennis-Zentrum in Düsseldorf erzielt hat, seit er im Januar 2006 das Amt des Bundestrainers übernahm. „Die Chinesen müssen zurzeit nicht viel Angst haben vor uns, aber wir merken, dass sie uns stärker wahrnehmen“, sagt er. „‘Lulu‘ hat zum Beispiel bei den Polish Open amüsiert festgestellt, dass die Chinesen ab der Vorrunde all ihre Spiele aufgenommen haben. Spätestens durch die Medaille in Moskau haben wir uns eine gehörige Portion Respekt verschafft.“
Guo Yue: Rückhand umlaufen, Noppen meiden
Zurück zur Videoanalyse von Jörg Bitzigeio und Wu Jiaduo. Das Spiel von 2007 verdeutlicht gut Taktiken und Fehler auf beiden Seiten. Guo Yue setzt so oft wie möglich ihren Männer-Vorhand-Topspin ein, der der Gegnerin wenig Raum zur Gegenwehr lässt. Dafür umläuft sie oft und gerne ihre Rückhand. Wu Jiaduos Noppen auf der Vorhand hingegen meidet sie, wo es nur geht. Halblange Aufschläge zieht sie am liebsten diagonal gegen Wu an. „Da kannst du schon in der richtigen Ecke warten“, lautet der Tipp des Bundestrainers. Wu selbst muss vermeiden, die Bronzemedaillengewinnerin im Einzel von Peking 2008 zu oft in der Tischmitte anzuspielen. Das ist gegen eine Guo Yue zu einfach. Die Aufschläge Guos richtig zu lesen wird eine weitere Herausforderung sein. Ist der Ballwechsel erst einmal unbeschadet eröffnet, könnte die Weltranglisten-16. ihre große Stärke ausspielen: die hohe Ballsicherheit.
Dies sind nur einige Punkte der gut 15-minütigen eingehenden Diskussion zwischen Bitzigeio und Wu. Beide greifen gleichberechtigt Szenen heraus und entwickeln Ideen. „‘Dudu‘ guckt gerne Videos, und sie speichert die Analyse für das jeweilige Spiel in ihrem Kopf gut ab“, weiß der Trainer. „Dabei darf man nie vergessen, dass sich ein Spiel ja auch entwickelt. Wenn es nicht läuft, muss man spontan die Taktik wechseln können.“ Diskutiert vor einem Match wird mit Jörg Bitzigeio und mit Wus erstem und ständigen Trainer, ihrem Vater in China, einem ausgewiesenen Fachmann. „Für einen Trainer ist eine solche Spielerin angenehm, weil er weiß, dass er sich auf das Besprochene verlassen kann“, sagt Bitzigeio. „Andere sprechen mit zehn verschiedenen Leuten und machen nachher am Tisch etwas völlig anderes, als sie mit dem eigentlich zuständigen Trainer vorher festgelegt hat.“ Wu habe großes Vertrauen darin, dass man von außen einige taktische Dinge besser einschätzen könne. „Sie steht dahinter, auch wenn die Taktik nicht aufgeht. Sie trägt die Entscheidung mit.“ Einen bösen Blick von ihr hat Jörg Bitzigeio daher noch nie geerntet – Gelegenheit dazu hätte sie ohnehin eher selten. „Wenn ich etwas im Spiel umsetze, dann glaube ich auch selbst fest daran, dass es in diesem Moment das Richtige ist“, ist Wus Einstellung.
Die richtige Analyse war es definitiv für das Achtelfinale gegen Guo Yue. Allein: Gereicht hat dies gegen die 22-jährige Gewinnerin von bisher 46 Pro-Tour-Turnieren im Einzel und Doppel inklusive der Grand Finals am Ende zwar nicht. Aber es wird sicher nicht der letzte Versuch mit der Deutschen gewesen sein.