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Er ist am Ziel: Timo Bolls Triumph in Rotterdam (Foto: MS)

Zwei Wege auf den Gipfel

16.05.2011

Rotterdam. Es gibt mindestens zwei Wege auf den Gipfel des Tischtennis. Den der Chinesen. Und den von Timo Boll. So ganz anders als die Besten aus dem Reich der Mitte ist Timo Boll groß geworden, und dennoch haben sie sich ganz oben getroffen. Zweimal schon konnte Boll ihnen die Spitzenposition in der Weltrangliste abnehmen: 2003 für mehrere Monate und dann noch einmal 2011. Vor ihm hatte noch kein Deutscher Platz eins der Weltrangliste belegen können. Und auch in Europa hat Boll sich ein Alleinstellungsmerkmal erspielt: Mit inzwischen 13 Titeln ist er Rekordeuropameister.

Auch Weltmeisterschaftsmedaillen hatte Boll vor der WM in Rotterdam, zwei silberne und eine bronzene mit der Mannschaft und eine silberne im Doppel. Sein am meisten beachteter Sieg war wohl der im Mannschafts-Halbfinale der Olympischen Spiele 2008 in Peking gegen den Japaner Seiya Kishikawa, er brachte die Auswahl des Deutschen Tischtennis-Bundes beim Stand von 2:2 ins Finale gegen China und somit am Ende zur Silbermedaille. „Vor dem fünften Satz habe ich mir gesagt: Jetzt kannst du zeigen, ob du ein Gewinner oder Verlierer bist“, erzählte er später. Sein bemerkenswertester Erfolg war dagegen wohl der 2005 beim World Cup in Lüttich, als er innerhalb von 24 Stunden die drei besten Chinesen Wang Liqin, Ma Lin und Wang Hao besiegte. Den Erfolg feierte er auf dem Rückweg bei einer Hamburgerkette mit einer Pappkrone auf dem Kopf.

Unglaubliche Konstanz auf hohem Niveau

Fast ein Jugendfoto: Timo Boll (Foto: MS)Dass ihm bis zu den Weltmeisterschaften in Rotterdam eine Einzelmedaille bei WM und Olympia fehlte, mögen manche als Schönheitsfehler seiner Karriere gesehen haben. Doch seine Konstanz hatte das Fehlen dieser Medaille mehr als wett gemacht. In jedem Jahr gelangen ihm wichtige Turniersiege, und Herren-Bundestrainer Jörg Roßkopf, Bolls einstiges Vorbild, sagt: „Es gibt keinen Spieler auf der Welt, der in den vergangenen Jahren so konstant gespielt hat wie Timo.“ Seit dem Wochenende ist Boll nun über wirklich jeden Zweifel erhaben. Er hat im Sportpalast Ahoy WM-Bronze gewonnen.

Die Karriere von Timo Boll begann mit vier Jahren im heimischen Hobbykeller in Höchst im Odenwald. Sein Vater hatte einen Tisch gekauft und wurde dadurch auch zu Bolls erstem Trainer. „Die Platte hat mich gleich neugierig gemacht und das Geräusch des Balles ist mir schnell vertraut geworden“, sagt Timo Boll. Ein Jahr später meldete Vater Wolfgang seinen Sohn dann auch im Verein an, beim TSV Höchst. Tischtennis musste sich aber erst durchsetzen, denn Timo spielte auch noch Fußball, als Stürmer, außerdem wollte sein Vater auf einer Wiese einen Tennisplatz bauen, Boris Becker hatte ein Jahr zuvor mit seinem Wimbledonsieg einen Tennisboom ausgelöst. Doch die Gemeinde Höchst versagte Wolfgang Boll die Baugenehmigung und Timo sagt heute: „Wer weiß, vielleicht wäre ich sonst beim Tennis gelandet.“

Vaterfigur: Helmut Hampl

Die zweite wichtige Figur in Bolls junger Karriere wurde der hessische Landestrainer Helmut Hampl. Er lud Timo Boll mit acht Jahren zum Sichtungslehrgang nach Frankfurt am Main ein und erkannte, dass hier ein großes Talent heranreifte. Es war weniger die brillante Technik, als die besondere Lernfähigkeit, die auffallende Ausgeglichenheit und das gute Spielverständnis, das Timo Boll zu diesem außergewöhnlichen Talent machte.

Mit seinem Spielverständnis konnte er auch körperliche Defizite ausgleichen. Als Kind war Timo Boll alles andere als athletisch. „Ich renn‘ nicht mehr“, sagte Timo Boll, wenn er mit seinem Vater ein bisschen Ausdauersport machte – und warf sich auf die Wiese. Weil Timo sehr an seinem Umfeld und seiner Heimat hing, entschied er sich gemeinsam mit seinen Eltern und Helmut Hampl auch gegen einen Wechsel ins Sportinternat nach Heidelberg.

Cai Zhenhua: „Boll ist die Schlüsselfigur im europäischen Tischtennis“

Mit 15 wurde Timo Boll zum bisher jüngsten Spieler der Tischtennis-Bundesliga. Er stand beim TTV Gönnern unter Vertrag, doch das Training fand nicht im Ort des Bundesligisten statt, sondern in Höchst, also in Bolls 160 Kilometer entfernten Heimatort. Ein einmaliges Modell, um ihn in seinem vertrauten Umfeld weiter reifen zu lassen. Seine Bodenständigkeit pflegt Boll bis heute. In China müssen die jungen Spieler dagegen oft in ein hunderte Kilometer entferntes Sportinternat ziehen, um eine große Karriere zu machen.

Mit dem Aufstieg in die Bundesliga bekam Timo Boll auch einen neuen Trainingspartner, der ihn gemeinsam mit Hampl darauf vorbereitete, dass die große Herausforderung seines sportlichen Lebens in China liegt: Xu Zengcai, Mannschafts-Weltmeister von 1987. „Ich wurde für ihn eine Art sportlicher Ziehsohn“, sagt Timo Boll. Steil ging es weiter aufwärts, mit 17 wurde Timo Boll der zweitjüngste Deutsche Meister seit 1945 (Conny Freundorfer war bei seinem Erfolg am 1. Februar 1953 nur wenige Monate jünger als Boll 1998), wenig später gewann er erstmals gegen den bis dahin größten Gegner der Chinesen, den Schweden Jan-Ove Waldner. Der große Durchbruch gelang Timo Boll schließlich 2002, als er das Europe Top 12, die Europameisterschaften im Einzel und Doppel sowie den World Cup in China gewann. Zur Belohnung führte ihn die Weltrangliste zum Jahreswechsel 2003 als ersten Deutschen auf Platz eins, und Cai Zhenhua, der damalige Cheftrainer der Chinesen, sagte: „Timo ist die Schlüsselfigur im europäischen Tischtennis.“

Große innere Ruhe, viel Rotation im Spiel

Das Ehepaar und seine Feier: 'Deli' und Timo Boll (Foto: privat)Zur WM 2003 in Paris reiste Timo Boll als Favorit, erlebte dort aber die bisher wohl bitterste Niederlage seiner Karriere, als er in der zweiten Runde gegen den Chinesen Qiu Yike ausschied. In der Öffentlichkeit entbrannte eine Debatte, ob sich er sich überhaupt richtig vorbereitet habe, Boll wehrte sich dagegen mit einer öffentlichen Erklärung. Privat endete dieses Jahr dafür umso erfolgreicher, er heiratete an Silvester seine Freundin Rodelia, die er in Gönnern kennen gelernt hatte.

Ein inneres und ein äußeres Markenzeichen gibt es in Bolls Spiel, das innere ist seine Ausgeglichenheit, das Talent, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Das äußere Markenzeichen in Bolls Spiel wurde die Rotation, die er dem Ball mit Unterarm und Handgelenk mitgibt. „Ich bin einer der Pioniere, mit so viel Rotation zu spielen.“ Mit seiner Rotation brachte er die Chinesen in Bedrängnis, mit ihr gelangen ihm in jedem Jahr große Titelgewinne, ob beim Europe Top 12, bei den Europameisterschaften, auf der Pro Tour oder beim World Cup.

Düsseldorf: Beste Trainingsgruppe außerhalb Chinas

Beim Europe Top 12 erfand er den 'Table Dance'Sein konstant hohes Leistungsniveau verteidigte er in der Vergangenheit trotz einiger langwieriger Verletzungen, die seinen Trainingsumfang eingeschränkt hatten. Zu seinen spielerischen Fähigkeiten kamen im Laufe der Jahre immer mehr Erfahrungen. Auch durch den Wechsel 2007 zu Rekordmeister Düsseldorf, wo Boll nun in einer Gruppe trainiert, von der DTTB-Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig sagt, sie sei die beste außerhalb Chinas.

Timo Bolls Popularität in China wie in Deutschland ist messbar, in China an den Menschentrauben, die ihn regelmäßig umlagern und an kuriosen Wahlerfolgen wie dem zum „attraktivsten Ausländer“, noch vor David Beckham. In Deutschland ist es dagegen etwa die Wahl zum „Sportler des Jahres“, die über seine Beliebtheit Auskunft gibt, schon dreimal belegte er dabei den zweiten Platz.

Topspieler und großer Sportsmann

Matchball im Halbfinale verwandelt, am Ende Silber gewonnen: das Duo Boll/Süß bei der WM 2005Gründe dafür sind nicht seine sportlichen Siege allein. Es sind auch sein bescheidenes Auftreten und sein Fairness. Bei der WM 2005 in Schanghai hatte Boll im Achtelfinale schon Matchball und korrigierte dennoch eine Entscheidung des Schiedsrichters zugunsten seines Gegners, des Chinesen Liu Guozheng. Der Schiedsrichter hatte nicht gesehen, dass der Ball noch die Tischkante gestreift hatte. Der frühere Bundestrainer Richard Prause sagt: „Vielleicht hätten auch andere diesen Ball zugegeben. Das Besondere an Timo ist die Selbstverständlichkeit, mit der er es gemacht hat.“ Boll verlor damals noch das Spiel – dafür erhielt er den Fairplay-Preis des internationalen Tischtennis-Verbands. Sechs Jahre später in Rotterdam hat er WM-Bronze gewonnen und die Fairplay-Trophäe noch dazu.

Friedhard Teuffel

Der Autor des Texts, Friedhard Teuffel, ist Redakteur bei der Zeitung "Der Tagesspiegel" in Berlin und schreibt zurzeit an einem biografischen Reisebericht Timo Bolls in China. Das Buch soll im Herbst erscheinen.

 

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