Herning. Europas König begann sein erstes Statement in der Arena Jyske Bank Boxen mit einer Entschuldigung. „Sorry, dass ich schon so oft gewonnen habe. Vielleicht ist es schon ein bisschen langweilig. Ich bin sehr froh, es war ein hartes Match, am Ende ist er noch mal gefährlich nahe gekommen“, sagte Timo Boll. Mit 4:1 hatte der Rekordmann den flinken Linkshänder Tan Ruiwu (Kroatien) im Finale besiegt. Es war Bolls sechster Einzeltitel nach 2002, 2007, 2008, 2010 und 2011, sein dritter in Folge, und es war sein 16. insgesamt (sechsmal Einzel, fünfmal im Doppel, fünfmal mit der Mannschaft). Bei dieser EM fanden nur Einzel- und Doppelwettbewerbe statt. Die Mannschafts-EM wird erst wieder 2013 bei den kommenden kontinentalen Titelkämpfen in Schwechat (Österreich) ausgetragen, die Doppel-Konkurrenz hatte Boll in Herning ausgelassen. Mit dem insgesamt 16. Coup hatte der Düsseldorfer auch die Worte von seinem Freund und Nationalmannschaftskollegen Dimitrij Ovtcharov bestätigt. Der hatte vor Beginn der Wettbewerbe noch gesagt: „Die EM ist Timos Haus- und Hofturnier“.
„Das sieht von außen immer so einfach aus“
Beeindruckend war einmal mehr, wie Timo Boll den Titel Nummer 16 einfuhr – mit einer spielerischen Leichtigkeit und Eleganz, die auf dem europäischen Kontinent Ihresgleichen sucht. „Ich wusste, ich bin in einer guten Form, habe beim World Cup gut gespielt und in der Bundesliga und Champions League zuletzt kein Spiel verloren. Ich wollte angreifen und zeigen, dass man mit mir noch rechnen muss“, befand Boll, stellte aber auch klar: „Das sieht von außen alles immer so einfach aus. Viele denken, die Europameisterschaft ist für den Boll ein Selbstläufer. 90 Prozent zu geben reicht aber in so einem engen Feld nicht aus. Ich weiß, wenn ich nachlässig werde, dann geht es mir so wie Maze oder Dimi“, betonte der WM-Dritte von 2011 in Anspielung auf Michael Maze (Dänemark, Aus in der 1. Runde) und Dimitrij Ovtcharov (Niederlage im Viertelfinale).
Im Finale bestimmte der Weltranglisten-5. Boll zunächst klar das Geschehen gegen Tan Ruiwu. Der in Shanghai gebürtige Kroate und ehemalige Bundesligaspieler in Würzburg und Frickenhausen hatte zuvor mit Patrick Franziska, Dimitrij Ovtcharov und heute auch noch Bastian Steger (Halbfinale) allein drei deutsche Spieler aus dem Wettbewerb gekegelt und insbesondere mit druckvollem, vorhandorientierten Spiel gepunktet. Den vierten Deutschen knackte Tan nicht, auch wenn es nach hinten heraus noch mal eng wurde. Im vierten Satz vergab Boll einen Matchball, im fünften Satz lag der Deutsche zurück, gewann aber schließlich 11:9. „Ich war gewarnt. Tan hat drei meiner deutschen Kollegen rausgeworfen. Ich kannte ihn aber ganz gut, habe in der chinesischen Liga mit ihm gespielt. Es ist nicht einfach, gegen Spieler mit Noppen zu spielen. Das ist man nicht gewöhnt“, erklärte Boll in der anschließenden Pressekonferenz.
Boll mag den Herbst
Auf die Frage, warum es gerade immer bei den Europameisterschaften so gut für ihn laufe, sagte er: „Eine Rolle spielt bestimmt auch, dass die EM im Herbst stattfindet. Im Herbst läuft es immer gut für mich. Da stehen viele Turniere an. Vielleicht ist das auch der Grund, warum es bei Olympia nicht so läuft bei mir. Da habe ich im Vorfeld kaum Turniere, wenig Wettbewerbe. Ich brauche aber die vielen Spiele, um in Form zu sein“, sagte Boll, der nicht nur seinen sechsten Titel eingeheimst, sondern auch Revanche genommen hatte. Im Halbfinale besiegte der Bundesligaspieler von Borussia Düsseldorf den Rumänen Adrian Crisan. Der 32-jährige hatte der deutschen Nummer eins bei den Olympischen Spielen in London eine der schmerzhaftesten Niederlagen in Bolls Karriere zugefügt. Der Traum vom olympischen Edelmetall blieb unerfüllt. „Ich fühle schon Genugtuung, die Revanche ist geglückt. Auf der anderen Seite ist es irgendwie bitter, dass ich diese Leistung nicht bei Olympia abrufen konnte, sondern jetzt bei der EM. Auch wenn die EM ein wichtiges Turnier ist, hätte ich gerne getauscht", sagte Boll.
Bastian Steger erfüllt sich den Traum von einer EM-Einzelmedaille
Neben Boll stand heute ein weitere Deutscher auf dem Siegerpodest, und um dessen Hals baumelte eine Bronzemedaille: Bastian Steger. Eine Einzelmedaille bei einer EM hatte dem 31-jährigen Bayer in seiner Sammlung noch gefehlt. Mit der deutschen Mannschaft hatte der Bundesligaspieler des 1. FC Saarbrücken zuvor schon vier EM-Titel geholt.
Nach seiner 1:4-Halbfinal-Niederlage gegen Tan Ruiwu konnte sich Steger zunächst noch nicht richtig freuen. "Das war eine große Möglichkeit, in ein EM-Finale einzuziehen. Leider habe ich die Satzbälle im vierten Satz nicht zum 2:2 nutzen können. Tan hat sehr gut gespielt, druckvoll und flink auf den Beinen. Er hat aber auch oft nicht korrekt aufgeschlagen und den Ball verdeckt", sagte Steger. Angesprochen auf das erreichte Edelmetall, hellte sich sein Gesicht dann doch auf. „Ich bin richtig froh. Gerade gestern hatte ich einen perfekten Tag.“ In der Tat: Mit dem Sieg im Marathonmatch (79 Minuten) gegen den Abwehrer Gionis (Griechenland) und vor allem mit dem bravourösen 4:0 gegen den an Position drei gesetzten dreifachen Einzel-Europameister Vladimir Samsonov (Weißrussland) erspielte und erkämpfte sich Steger die Medaille. Wenn einer das Edelmetall verdient hat, dann Steger, der zudem eine schwere Auslosung hatte. Die EM-Bronzemedaille ist sein fünfter großer Erfolg in diesem Jahr, nach dem Pokalsieg mit seinem Club Saarbrücken in Stuttgart, dem Deutschen Einzel-Meistertitel in Berlin, dem zweiten Platz bei der Heim-WM in Dortmund und der Bronzemedaille mit dem deutschen Team in London.
Viktoria Pavlovich gewinnt nach 2010 zum zweiten Mal den Einzeltitel
Viktoria Pavlovich aus Weißrussland ist die Europameisterin 2012. Im Finale besiegte die 34-Jährige Xian Yi Fang aus Frankreich in fünf Sätzen. „Ich bin unendlich glücklich über meine zweite Goldmedaille. Heute zwei Spiele gegen Abwehr zu haben war sehr hart“, sagte die Siegerin in der Pressekonferenz. Für Pavlovich ist es nach 2010, als sie in Ostrava (Tschechien) gewann, der zweite EM-Einzeltitel. Auffällig bei dieser EM: Mit der Weißrussin und den beiden Französinnen Xian Yi Fang und Li Xue hatten insgesamt drei Abwehrspielerinnen im Halbfinale gestanden.
Deutsche Bilanz: Keine Maximalausbeute, aber „ordentlicher Abschluss einer grandiosen Saison“
Aus deutscher Sicht waren die diesjährigen Europameisterschaften durchaus erfolgreich. Neben Gold und Bronze im Herren-Einzel holten Kristin Silbereisen/Wu Jiaduo sowie Dimitrij Ovtcharov an der Seite des Weißrussen Samsonov im Doppel jeweils Bronze für den Deutschen Tischtennis-Bund. Dazu spielten sich vor allem junge Athleten wie Sabine Winter oder Patrick Franziska in den Vordergrund. Als beste Deutsche erreichte Kristin Silbereisen das Einzel-Viertelfinale. "Wir sind nicht unzufrieden, vier Medaillen sind aber keine maximale Ausbeute. Die EM war dennoch ein ordentlicher Abschluss einer grandiosen Saison", bilanzierte DTTB-Sportdirektor Dirk Schimmelpfennig.
Die Europameister und Medaillengewinner 2012
Herren-Einzel
1. Timo Boll GER
2. Tan Ruiwu CRO
3. Adrian Crisan ROU
3. Bastian Steger GER
Damen-Einzel
1. Viktoria Pavlovich BLR
2. Xian Yi Fang FRA
3. Li Xue FRA
3. Liu Jia AUT
Herren-Doppel
1. Robert Gardos/Daniel Habesohn AUT
2. Mattias Karlsson/Kristian Karlsson SWE
3. Dimitrij Ovtcharov/Vladimir Samsonov GER/BLR
3. Alexey Liventsov/Mikhail Paykov RUS
Damen-Doppel
1. Daniela Dodean/Elizabeta Samara ROU
2. Georgina Pota/Krisztina Toth HUN
3. Wu Jiaduo/Kristin Silbereisen GER
3. Dora Csilla Madarasz/Britt Eerland HUN/NED
Der Finalsonntag in der Übersicht
Herren-Einzel
Finale
Timo Boll - Tan Ruiwu CRO 4:1 (2, 6, 7, -11, 9)
Halbfinale
Timo Boll – Adrian Crisan ROU 4:1 (-10, 7, 6, 5, 10)
Bastian Steger - Tan Ruiwu CRO 1:4 (-6, 8, -2, -13, -6)
Damen-Einzel
Finale
Viktoria Pavlovich BLR - Xian Yi Fang FRA 4:1 (6, 9, -9, 5, 11)
Halbfinale
Liu Jia AUT - Xian Yi Fang FRA 3:4 (-5, 10, -3, 5, 6, -11, -5)
Viktoria Pavlovich BLR - Li Xue FRA 4:1 (5, -9, 4, 6, 9)