Frankfurt/Main. „Reinschnuppern“ lautete Carsten Schiels Arbeitsauftrag bei seiner ersten Großveranstaltung in Diensten des Deutschen Tischtennis-Bundes. Die LIEBHERR Europameisterschaften in Ostrava nutze der neue Teampsychologe der Nationalmannschaften, um Spieler, Trainerteam und das schnellste Rückschlagspiel Welt im Einsatz zu erleben. Im Interview mit tischtennis.de spricht der gebürtige Münchener unter anderem über den besonderen Charakter des Mannschaftswettbewerbes und Stressbewältigungsstrategien in Drucksituationen.
tischtennis.de: Carsten, in Ostrava hast du die Mannschaft und das gesamte Funktionsteam das erste Mal im Einsatz gesehen. Wie hat dir deine erste Tischtennis-Großveranstaltung gefallen?
Carsten Schiel: Sehr gut. Als erstes möchte ich mich beim ganzen Team dafür bedanken, wie freundlich und offen ich aufgenommen worden bin. Es war hochinteressant, die Spieler mal unter Wettkampfbelastung zu erleben. Tischtennis ist ein faszinierender Sport und vor allem mental sehr anspruchsvoll. Überhaupt war für mich alles neu und dadurch auch sehr spannend. Ich habe die Spieler kennengelernt und bereits nach sportpsychologischen Ansatzpunkten Ausschau gehalten. Zum Reinschnuppern war das genau das richtige.
Hast du dich auf diese Europameisterschaften speziell vorbereit?
Ich habe vorab viel mit meinem Vorgänger Thorsten Weidig gesprochen. Allerdings ging es dabei vielmehr um Arbeitsschwerpunkte als um einzelne Spieler. Es ist produktiver, wenn ich mir unvorbelastet ein eigenes Bild der Athleten mache, meine eigenen Ideen dazu entwickle. In Ostrava habe ich die Vorarbeit geleistet, aus der sich später praktische Bezüge herstellen lassen. Es ergeben sich Ansatzpunkte, die ich dann an konkreten Spielsituationen aus dem EM-Turnier festmachen kann.
Ging deine Arbeit in Ostrava auch schon über das bloße Reinschnuppern hinaus?
Es hat sich alles noch auf dem Einstiegslevel bewegt. Ich habe Gespräche mit den Spielern geführt und skizziert, in welchen Bereichen man mit Hilfe der Sportpsychologie ansetzen kann. Die Wettkampfvorbereitung könnte zum Beispiel einer dieser Ansatzpunkte sein, aber auch der Umgang mit negativen Phasen im Spiel. Daraus haben sich auch schon die ersten Termine ergeben. Das Interesse seitens der Spieler und Trainer an mentalen Trainingsformen ist auf jeden Fall vorhanden.
Du kommst ursprünglich aus dem Hockey, einer klassischen Mannschaftssportart. Lässt sich die Situation eines Hockeyspielers auf die eines Tischtennisspielers im Teamwettbewerb übertragen?
Im Mannschaftssport geht es vor allem auch um die Koordination von Einzelleistungen, die im Tischtennis-Teamwettbewerb so nicht nötig ist. Da die Einzelergebnisse für das Teamergebnis ausschlaggebend sind, ist es interessant zu sehen, wie die Spieler damit umgehen, nicht nur für sich alleine zu spielen. Die einen fühlen den Rückhalt der Mannschaft und werden von dieser Gruppendynamik beflügelt. Andere wiederum, die empfänglicher für sozialen Druck sind, könnte diese Situation hemmen. Sie kommen dann mit ihrer Verpflichtung gegenüber der Mannschaft nicht so gut zurecht. So kann der spezielle Charakter des Teamwettbewerbs sowohl förderlich als auch hemmend wirken.
Im Herren-Einzel gab es sowohl im Halbfinale (Timo Boll – Christian Süß) als auch im Endspiel (Timo Boll – Patrick Baum) die Situation, dass zwei Deutsche gegeneinander gespielt haben. Wie gehen die Spieler mit so einer Konstellation um?
Für die Spieler ist das natürlich eine besondere Situation. Man wird nicht gecoacht und auch die Teamkollegen unterstützen einen nicht. Allein das verleiht so einem Spiel schon einen speziellen Charakter. Zudem kennt man sich gut, und nicht selten ist der interne Wettkampf in einer Mannschaft ausgeprägter als mit Spielern anderer Nationen. Ich muss aber festhalten, dass die gegenseitige Wertschätzung innerhalb des deutschen Teams sehr groß ist. Der Wettkampf wird nur am Tisch ausgetragen. Ein Zeichen für eine gut funktionierende und harmonierende Mannschaft.
Bundestrainer Jörg Bitzigeio hat bemängelt, dass sich seine Damen bei der EM in Drucksituationen am Tisch häufig zu sehr auf das Nötigste beschränkt, zu einfach gespielt hätten. Wie ist das zu erklären?
Es ist normal auf Druck zu reagieren, indem man auf eigene Stärken zurückzugreift. Man also das spielt, was man gerne spielt, weil man es gut beherrscht. Das kann dann dazu führen, dass man seine taktische Linie verlässt. Man spielt eher einfache als risikoreiche Bälle, eher defensiv als offensiv. Es entsteht also ein Druckempfinden, auf das man mit Routine reagiert. Das sind klassische Kennzeichen von Stresssituationen. Die Frage ist also, wie schaffe ich es, weiterhin an meiner taktischen Linie festzuhalten. Das ist ganz klar ein Punkt, an dem man sportpsychologisch ansetzen kann.