Berlin. Nach 1962 bildete Berlin für eine Zeitspanne von immerhin 46 (!) Jahren und über mehrere Spielergenerationen hinweg nicht gerade den Nabel oder Treffpunkt der ganz großen internationalen Tischtenniswelt. Müßig, an dieser Stelle über die zeitgeschichtlichen Gründe zu philosophieren.
In Sachen – neu firmiert – „German Open“ gab es für Berlin erst 2008 einen Neustart im „Velodrom“. Einem Areal mit Tischtennis-Vergangenheit. Zu DDR-Zeiten stand dort die populäre Werner-Seelenbinder-Halle, gelegentlich auch Schauplatz größerer Tischtennis-Veranstaltungen (DDR-Meisterschaften, Turnier der Tausende). Der Gymnastik-Saal im 1. Stock war zugleich Domizil des Serienmeisters BSG Außenhandel, dessen ausschließlich aus Berlinerinnen bestehendes Damenteam 1968 und 1969 den Europapokal der Landesmeister gewann. Wohl ein Solitär in der Geschichte dieser Trophäe. Tempi passati!
Timo Boll – Sieger auf Umwegen
Frischer sind die Erinnerungen an das Turniergeschehen 2008. Zwar wurde im Starterfeld die chinesische Elite vermisst, aber insgesamt elftausend Zuschauer kamen dennoch auf ihre Kosten. Die dramatischste Turnierstory überhaupt: Timo Bolls erst in einem denkwürdigen „zweiten Anlauf“ realisierter Triumph.
Bereits vor seinem Achtelfinal-Match gegen den Rumänen Adrian Crisan hatte es um die Belagstärke des Crisan-Rackets Diskussionen gegeben. Ein Schläger fand endlich auch Gnade vor den Augen und Messinstrumenten des Schiedsrichters. Die nachträgliche Schilderung des Vorgangs füllte übrigens im Fachorgan „tischtennis“ in der Ausgabe 12/2008 einige Seiten.
Tischtennis, eine unkomplizierte Sportart wie Fußball bei „Abseits“ oder löchrigem Tornetz. Kurzum: Boll und Crisan durften an den Tisch und nach sieben begeisternden Sätzen behielt der an seinem Limit spielende Rumäne die Oberhand, begründete seinen Ruf als Angstgegner Bolls. Bei der Nach-Kontrolle des Sieger-Schlägers dann die Feststellung: Die Beläge sind zu dick. Disqualifikation unumgänglich. Timo Boll, schon zur Abreise gerüstet, wurde in letzter Sekunde per Handy über diese Entscheidung informiert. Wer den Sportsmann Boll kennt, weiß, wie schwer es ihm gefallen sein muss, das Turnier als „Lucky loser“ fortzusetzen. Dann aber – vom damaligen Herren-Bundestrainer Richard Prause und dem Assistenztrainer Roßkopf mühsam überredet, tat er das mit der ihm eigenen professionellen Konsequenz. Klare 4:0-Siege im Viertel- und Halbfinale gegen Konkurrenten aus Japan und
Hongkong. Und im Endspiel gab Boll gegen Chuang Chih-Yuan aus Taiwan nur einen Satz ab. Anfängliche Pfiffe verstummten bald.
Den German-Open-Titel in der Damen-Konkurrenz sicherte sich „Susi“ durch
einen 4:2 Finalsieg über „Dudu“. Klartext für die im Tischtennis nicht so Bewanderten: Die Europameisterin von 2005, Liu Jia aus Österreich, verwies ihre deutsche Rivalin Wu Jiaduo (2009 auch Europameisterin) auf den Silberrang. Auf der Endspielposition landeten auch die beiden Gastgeberteams. Die Herren (ohne Boll angetreten) unterlagen Polen. Die Damen bezwangen dank einer überragenden „Dudu“ im Halbfinale Japan, und beim anschließenden 1:3 gegen Singapur sorgte Wu für den Ehrenpunkt.
2010: Großmacht China Titelsammler und „Spielverderber“
Diese so überaus erfreuliche Medaillen-Ausbeute geriet knapp anderthalb Jahre später im März 2010 aus Sicht der Gastgeber zur Nullnummer. Kein Wunder, denn die Tischtennis-Weltmacht China hatte das Beste vom Besten in die Max-Schmeling-Halle beordert. Trotz asiatischer Dominanz verzeichneten die German Open mit knapp 12.000 Zuschauern einen Besucherrekord. Wichtiger noch: Riesenstimmung auch bei den nur von einer Singapur-Dame gestörten rein chinesischen Einzel-Vorschlussrunden.
Dimitrij Ovtcharov und Timo Boll waren die deutschen Animateure. „Dima“ bezwang im Achtelfinale in einem epischen Sieben-Satz-Drama Xu Xin (World-Cup-Sieger des vergangenen Wochenendes) mit 12:10 im Schlussdurchgang, ehe er sich dem späteren Champion Ma Long beugen musste. Und Timo scheiterte – welch dummes Wort – im Viertelfinale an Chen Qi mit 11:13 in Satz sieben. Das Ranking: Ma Long Sieger gegen Wang Hao, Dritte: Chen Qi und ein gewisser Zhang Jike (in einem tadellos sitzenden Trikot).
Bei den Damen kam die 20-jährige World-Tour-Debütantin Feng Yalan (China) aus der Qualifikation, absolvierte die Kleinigkeit von 91 Sätzen in 23 Matches und gewann das Finale gegen die hoch favorisierte Landsfrau Ding Ning. Ganz nebenbei beherrschte „Wonder-Woman“ Feng auch noch den Junioren-Wettbewerb.
Ausblick
Soweit – im Geschwindeschritt – Histörchen um internationale Tischtennis-Championate am Austragungsort Berlin. Time is running. Wer kannte vor drei Jahren schon das Damen-Doppel Petrissa Solja/Sabine Winter? Inzwischen sind sie Europa- und nationale Meisterinnen geworden und wollen hier den ersten Rang von den German Open 2012 in Bremen verteidigen.
Auszüge aus Timo Bolls aktueller Erfolgs-Bilanz: neun Mal Deutscher Meister, sechs Mal Einzel-Europameister (insgesamt 16 EM-Titel). Die ersehnte bronzene WM-Einzelmedaille ist inzwischen auch da. Den viermaligen Triumph bei German Open (Rekord) muss er sich (noch) mit Eberhard Schöler teilen.
Dimitrij Ovtcharov wartet weiter ungeduldig auf den nationalen Einzeltitel. „Trostpflaster“: Olympia-Bronze, EM-Gold 2013 und Vorjahrssieger bei den German Open (gegen Finalist Boll). Der „gewisse“ Zhang Jike von 2010 ist inzwischen Olympiasieger und zwei Mal Einzel-Weltmeister geworden. Niemand – außer Diskus-Heros Robert Harting – zerreißt im Augenblick des Triumphes so spektakulär sein Trikot und zeigt seinen durchtrainierten Oberkörper!
Bühne frei also für die Zelluloid-Matadore, die nun in der Max-Schmeling-Halle aufeinander treffen und sicher reichlich Stoff für künftige Geschichten bieten werden.